nein, heute mag ich twitter nicht. wirklich gar nicht. inzwischen sind so viele Menschen mit dem Ablassen von Dampf beschäftigt, dass ich mir wünsche, sie fänden andere Ventile. ich weiß, ist leicht geschrieben. Ventile. schließlich schränken wir uns alle ein. zumindest gehe ich davon aus.
ich schränke mich ein. also, es ist fast ein bequemes einschränken, weil ich ohnehin schon lange viel alleine war und keine Lust mehr auf Online-Dating habe und meine Hobbys sich zusammensetzen aus „50 Sachen, die Du bequem zuhause machen kannst ohne dafür Geld auszugeben“. ich habs leicht. also abgesehen davon, dass ich als Schulbegleitung das geringste Mitspracherecht im Klassenzimmer beanspruche und dementsprechend jeden Tag von 8 bis 13:00 friere. die MNS-Maske stört mich glücklicherweise gar nicht, im Gegenteil: die hält meine Nase famos warm! wie konnte ich bisher ohne so etwas leben? wie oft hat mich der Schal an der Nase gekitzelt? wie oft hab ich mir mein Halstuch durch Atemluft eingeweicht? hah! eine MNS-Maske löst eine Menge meiner Probleme im Winter!
ich bin also nicht wirklich eingeschränkt, im Gegensatz zu den Rudeltieren, die ich kenne. Menschen, die wirklich immer verabredet sind. Holla, denen geht es echt schlechter als mir. meinen Kindern zum Beispiel. die zwei atmen nicht nur Luft sondern auch Gesellschaft und Anerkennung und gemeinsames Schreien. Freund:innen von uns, die enger mit Großeltern verknüpft sind. Familien, die mehrere Freunde-Termine mit Übernachtung im Jahr haben. die vermissen etwas wesentliches. etwas sehr wesentliches. eine Säule ihres Alltags.
und dabei haben wir in meinem Dunstkreis alle keine besondere Krise on top. eine Trennung oder einen Verlust. eine seelische Entgleisung. Gewalterfahrung. Alkoholismus. Krebs. Unfälle. Betrug. Jobverlust.
ich weiß nicht, ob sich das nicht-Betroffene so klar machen, aber all das, was ich da eben aufgezählt habe, gehört für viele Menschen aktuell zusätzlich zur Pandemie zum Leben. zum Ballast. und sie müssen damit zurechtkommen. Pandemie hin oder her. glücklicherweise leidet mein Umfeld „nur“ an den verschärften Alltagssorgen: Masken nicht vergessen, andere erkennen denen die Maske fehlt, Abstände einhalten, Spontanität nur draußen bei etwa 6°C, Mitlesen von Zahlenkollonnen und ertragen, dass sich ständig die Regeln ändern. Dumpfe Ahnung aber es nicht wissen können und dann diese nicht-Planbarkeit der nächsten 6 Monate. manche warten immer noch auf die Rückzahlung ihrer Urlaubs-Stornos. manche warten auf einen Bescheid. manche wissen gar nicht mehr, ob sie überhaupt alles richtig machen oder doch falsch? ist das jetzt Halsschmerz? ist das ein normaler Schnupfen? scheiße, ich weiß das doch auch nicht.
tja und on top diskutieren wir jetzt ein Fest, von dem sich alle Psycholog:innen einig sind, dass es ein wichtiges jährliches Ritual darstellt. ich erinnere mich an den Satz: „Reichen Sie die Scheidung lieber im Januar ein und nicht Ende November. Gönnen Sie sich die Pause und die Ruhe. Und ermöglichen Sie sich und den Kindern so viel Normalität in der Weihnachtszeit wie möglich. Tun Sie das, was sie immer getan haben.“
es gab noch NIE gesellschaftliche Einschränkungen für Weihnachten. es gab schon immer Menschen, die Weihnachten scheiße finden oder deren Jahres-Hauptfest einfach an einem anderen Tag liegt. die finden an den Tagen zumindest coole Deko, schicke Lebensmittel und Parties, wenn sie das mögen. aber es gibt eine Menge Menschen, für die Weihnachten das einzige Fest ist, an dem sie zu ihrer entfernten Familie fahren. klar, können sie auch an einem anderen Tag machen, voll easy…oder nicht?
worauf will ich hinaus? vielleicht auf sowas wie „Verständnis“. das ist ein sehr altbackenes Wort, ich weiß. heute haben wir Empathie und soziale Kompetenzen. Verständnis klingt einerseits wie Weizenmehl 405 und andererseits wie Wolle-Polyacryl-Mischung mit Farbverlauf. Verständnis haben. „ich habe Verständnis für Menschen, denen eine Einschränkung des Weihnachtsfestes dieses Jahr zu viel abverlangt“ ein ganz einfacher Satz. „ich habe auch Verständnis für Menschen, denen die Einschränkungen nicht weit genug gehen“ kann ich genauso schreiben und meinen. ich habe Verständnis für alle, die an Weihnachten ihre Ruhe brauchen und deswegen völlig d’accord sind mit „1Haushalt“. und mit denen, die Angst haben, ihre Eltern nie wieder zu sehen. ich habe Verständnis mit allen Familien, die Mitglieder in dieser Pandemie verloren haben und denen gar nicht nach Weihnachten ist. ich habe auch Verständnis für die Menschen, die gerade wegen dieser Verluste sagen, dass ihnen Weihnachten etwas bedeutet. ich habe Verständnis für die menschliche Sehnsucht nach „so wie es vorher war“.
Weihnachten hat für viele Menschen die Macht, eine emotionale Dunstglocke über dem Zuhause aufzubauen um für ein paar Tage zu vergessen, wie beschissen so vieles war und ist.
ich habe auch Verständnis für die Singles, die an Weihnachten Einsamkeit erleben und auf Parties angewiesen sind, um nicht abzusaufen. für die Menschen, die Angst vor Weihnachten haben, weil dann Erinnerungen hochkommen.
ich kann das alles verstehen. ich kann die dazugehörigen Gefühle verstehen. Angst. Verzweiflung. Wut. Versteinerung. das ist menschlich. das ist: normal.
was in meinen Augen nicht normal ist, ist die in sozialen Medien damit einhergehende Bewertung. die Selbstüberhöhung. das ad absolutum der eigenen Weltsicht. und das machen sooooo viele. wir filmen Falschparker. wir kommentieren Artikel. wir zeigen mit dem Finger auf andere und lachen und schimpfen und ergötzen uns an unserer vernichtenden Eloquenz als läge darin irgendwas Gutes. anstatt Zugänge zu finden, errichten wir Mauern: ne, wer sowas schreibt, wird geblockt!!! Blockfingermikodaoparty!!!
wie oft habe ich gelesen, dass Bildung der Schlüssel zu gesellschaftlichem Frieden wäre. ich bin mir seit ich 20 war sicher, dass das nicht stimmt. Verständnis ist der Schlüssel. und Verständnis bekommen wir nicht durch Bildung. Verständnis erlangen wir durch Erfahrung und Erleben und Begegnung. ja, das wird uns gerade kollektiv erschwert. aber das ist kein Grund, wirklich jede Sau bis zur Erschöpfung durchs Dorf zu treiben und an jeder Ecke Hinweisschilder auf die beginnenden Mauer-Bauarbeiten aufzustellen.
irgendwann diesen Sommer titelte die Zeit doch sowas wie, dass Freundlichkeit der Motor der Evolution sei! nicht the Fittest! Freundlichkeit!
vor uns liegt die Adventszeit. eine Zeit des Rückzugs, so oder so. und am Ende liegen mehrere Feiertage, die in unserer Ausgestaltung immer wieder mit Liebe zu tun haben könnten. Liebe. Verständnis. Freundlichkeit. niemand muss katholisch sein, um darin den Zauber zu erkennen. und wir brauchen eigentlich auch keine Evolutionsbiolog:innen oder Psycholog:innen oder ganzheitliche Magazine gedruckt auf chorfrei gebleichtem Altpapier mit Schmirgel-Haptik. wir können in den Kindergärten gucken, wie es die ganz Kleinen lernen. Schritt für Schritt vom Ich zum Du zum Wir. der Zauber wirkt nur gemeinsam. das Lied klingt am schönsten im Chor. und wenn sich Organisationen bilden, die helfen wollen, dass an Weihnachten Menschen nicht einsam sind, dann dürfen wir lächeln und „Danke“ sagen. und verstehen. Ängste. Sorgen. Nöte. wir dürfen Dankbarkeit empfinden, dafür dass wir nicht die ganze Klaviatur an Problemen gleichzeitig haben und nur unseren Teil tragen müssen. wir dürfen auch den Kopf schütteln und feststellen, dass uns das alles gar nicht betrifft. wir sollten uns nur alle hüten, zu verurteilen, was andere quält. „andere“ sind wir schließlich auch. und damit schließt sich ein fucking Kreis.
Liefs,
Minusch