wenn Du auf die Welt kommst, kannst Du nichts. der Gedanke, dass in Dir alles, was Du können sollst, angelegt ist, tröstet nur ein paar Eltern. der Rest weiß: da muss erzogen werden!
Kinder sind zu laut, zu leise, zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn, zu aggressiv, zu zurückhaltend…jedes Körperteil kann von der Perzentiele abweichen. und das alles, das Normen, machen wir nur, um Defekte zu finden. wenn wir sie haben, geht der Stress richtig los, denn dann sind die Eltern quasi die Verlängerung der Körper der Kinder und können versagen, indem sie zu viel oder zu wenig machen, zu progressiv denken oder zu konservativ, zu skeptisch sind oder zu vertrauensselig, zu verkopft oder zu unbedarft. wenn wir die gesellschaftliche Balance treffen, weil es zufällig passt oder weil wir uns anstrengen, finden wir einen Moment Ruhe. als Eltern. bei den Kindern geht es weiter.
die Normierungen, die pädagogische Einrichtungen vornehmen, werden schon schnell in der Peer Group ergänzt. da mag es, je nachdem ob Du zu laut oder zu leise bist oder zu fordernd oder zu nachgiebig, noch soft zugehen. aber nicht für immer. ich kann da schlecht für Jungsgruppen sprechen, die ja angeblich viel unverkrampfter ihr Inneres ausleben (haha), wohingegen Mädchen ja grundsätzlich mehr in sich hinein aushandeln (warum wohl?), aber bei Mädchen treten im Laufe des Adoleszenz eine Menge Defekte zu tage: Brüste zu groß oder zu klein, hat zu früh Sex oder zu spät, ist zu schlank oder zu dick, trägt zu viel Make Up oder zu wenig, hat zu viele Freundinnen oder zu wenig…wieso rede ich von Defekten, wenn ich doch eigentlich meine, dass wir nur die falschen Freundinnen haben, wenn die uns nicht gut tun? tjaaaaaa, weil auch Freundinnen zu den Defekten zählen!
als junge Frau war ich auch nie gut, wie ich bin. grundsätzlich. zu emotional, zu unruhig, zu laut, zu rechthaberisch, zu arrogant, zu prüde. und ich nahm alles zu persönlich (well…). wenn ich beschreiben konnte, warum es mir nicht gut gehe, wurde mir schon damals erklärt, dass es nur an mir selbst liege. ich strenge mich nicht genug an. ich will das Falsche. ich höre auf die Falschen. ich verhalte mich falsch. meine Interessen sind irrelevant (falsch).
spannend finde ich an dem Punkt, dass es gleichzeitig um Authentizität ging. hm. ich sah manchen Mädchen dabei zu, wie sie scheinbar mit Leichtigkeit gesellschaftlich genormt agierten. ich war mit den Mädchen nie befreundet, aber ich beobachtete sie. und lernte nichts, außer, dass Äußerlichkeiten schwerer wiegen als Inneres. ich sah das ja falsch. ich fand immer innere Werte wichtiger, aber mir wird heute noch gesagt, ich lüge mir damit selbst in die Tasche, weil das Äußere einfach immer zählt. ich bin 42. klar. warum sollte ich wissen, was ich schon immer attraktiv fand? bitter.
ich hatte schöne Beziehungen, die mich aber alle an Grenzen brachten, an denen ich mich nicht auf Dauer wohl fühlte. während ich immer wieder neu versuchte, mich in mir zu verorten und meine inneren Linien zu erkennen, verwuchsen meine Partner mit Systemen, die ich für ungesund hielt und halte.
wenn ich nach einer Beziehung trauerte um das verlorene Universum und die eingetrübte Zukunft, gab es als Trost entweder „er war der Falsche (TM)“ oder „Du hast was falsch gemacht“. well. ok.
falsch. Fehler. Defekte. ich muss wohl noch eine Menge Ratgeberseiten lesen, um zu funktionieren. oder?
einatmen – ausatmen.
ich frage mich, was mit mir geschehen wäre, wenn ich als Jugendliche Narrative von Liebe zwischen Menschen hätte sehen dürfen, die eben nicht der Buddenbrooks-Ideologie entsprechen. ich frage mich, was passiert wäre, hätte mein älteres Ich mich mal für einen Abend zur Seite genommen um mir zu sagen: „Du, als Frau wirst Du den Rest Deines Lebens gehasst werden, es sei denn, Du findest einen Mann, der Dich davor beschützt. arm, oder?“
ich habe mir gestern die Scobel-Sendung zur weiblichen Sexualität angeschaut. nichts hat mich überrascht. gar nichts. weder die Berichte darüber, wie Frauen ihre Vulvalippen verschönern, noch die weiblichen Versuche, ihre männlichen Partner vor der eigenen Versagensangst zu schützen und daher Orgasmen vorzuspielen. was habe ich mir schon durchlesen müssen, wie erbärmlich Frauen seien, wenn sie Orgasmen faken! selbst Schuld (!), wenn sie sich nicht nehmen, was sie wollen. tja, also, ich habe auch eine Menge Orgasmen gefakt. und in aller Regel wirklich für „ihn“. ich weiß trotzdem, wie ich Orgasmen kriege und wie meine Vulva aussieht, wie meine Vagina schmeckt oder dass die Klitoris größer ist als ein Knopf.
ich kriege nicht, was ich will, weil das, was ich will, nicht dem entspricht, was für Frauen vorgesehen ist. nicht, weil ich nicht versuche, es zu bekommen.
als Mutter ist für mich keine erfüllende Sexualität vorgesehen, denn dafür müsste ich weniger Sorgearbeit leisten können. um das zu schaffen, müsste ich wirtschaftlich stärker zu sein und deswegen entweder bereits etabliert in einem Vorstand, oder finanzstark verheiratet oder Erbin eines elterlichen Vermögens. die Frauen, die eine freie Sexualität leben dürfen, sind die, die es sich leisten können. ich bin jetzt eine von denen, die ein zweiwöchiges Vorspiel bräuchten, um sich mit einem anderen Menschen entspannen zu können. ein zweiwöchiges Vorspiel ohne Kinder oder Alkohol. und wie gut für mich Sex unter Alkohol ist, brauche ich nicht beschreiben, oder?
inzwischen bin ich natürlich auch zu dick und zu alt für sexy Klamotten, wie ich ab und zu lesen darf. beides sagt recht wenig über mich und meine Fähigkeiten oder Wünsche aus. aber es ist sichtbar. und ein Defekt. ich müsste mehr Sport machen und öfter zur Friseurin gehen und mir eine Hautpflegeserie zulegen. ich müsste mehr Alkohol trinken und entspannter sein und nicht so verkopft und nicht so skeptisch. aber wenn was schief geht, weil ich mal nicht skeptisch war, bin ich echt selber schuld(!).
eine Frage habe ich noch: wenn ich als Frau von jedem Hansel bewertet werden darf, wieso zählen für Kerle dann diese not-all-men-Argumente, um sich aus der Schusslinie zu bringen?
ich bin mein ganzes Leben damit konfrontiert, defizitär zu sein. jeder neue Abschnitt birgt neue Überraschungen darüber, was ich zu leisten habe und was mir dafür zusteht. es entspricht nie meiner Vorstellung. aber das liegt sicher nur daran, dass ich zu emotional bin und ne Feminazi und dass ich nicht weiß, wie glückliche Sexualität funktioniert und weil ich Männer hasse.
20 von 42 Lebensjahren habe ich meine Kämpfe gekämpft. ich mag nicht mehr. ich verzichte auf eine posthume Ehrung, weil ich so toll für andere da war. an den Schaltstellen meines Lebens war ich alleine. das, was ich anderen gebe, ist das, was ich selbst gern gehabt hätte. dafür gibts keine Ehrung. dafür gibts nicht mal üppiges Gehalt. das ist individuelle Auslegung des Jobs.
nein, ich will nicht aussteigen. das kann ich mir gerade nicht vorstellen. aber ich verschiebe meine Prioritäten. ich werde es nie richtig machen? also bemühe ich mich um den Genuss dessen, was ich falsch mache. das macht mich zu einer vielleicht nicht ganz galanten Gesprächspartnerin. aber ehrlich: lieber bin ich eine ungalante Gesprächspartnerin als ein psychisches Wrack, weil ich an der Quadratur des Kreises verzweifle. es spricht nichts gegen Dienst nach Vorschrift. und es spricht nichts gegen bequeme Schuhe. oder gegen versaute Dates. finde ich. es spricht nichts gegen eine eigene Vision von „gutem Leben“.
diese Krise hat mir gezeigt, dass ich keine Rückendeckung habe. well, dann eben ohne.
Liefs,
Minusch