vor 16 Jahren hatten die Tage auch eine Struktur, die auf unbestimmte Zeit angelegt war. ich war Mutter eines schwerkranken Kindes auf der Intensivstation. meine Aufgabe war nicht die Grundversorgung. meine Aufgabe war das Gut-tun. und das konnte ich. zumindest ihm. ein kleiner Junge mit großen dunklen Augen. ein Junge, der nur wenig gelächelt hat. ein Junge, dem die Töne der Überwachungsmonitore vertrauter waren als das Zwitschern der Vögel.
die Sonne steht heute ähnlich. ihr Licht noch blaß doch schon mit leicht goldenen Schimmer. der Himmel frühjahrsblau und die Äste kahl mit ersten Tupfern von Grün.
ich hatte 6 Monate in diesem Stadium gelebt. neben normalen Abläufen. zwischen der Zeit. wenige kurze Wege und kein Auftrag über meine eigene kleine Familie hinaus. allein. nur zögerliche Ansprechpartner. dann eine vorsichtige Verliebtheit.
vieles ist emotional gerade ähnlich. vielleicht wirkt das Licht daher auch gerade wie eine Zeitmaschine. ich kann mich dort noch spüren. vor 16 Jahren. in dem Versuch Bedrohliches zu verdrängen und stattdessen Schönes anzusehen. in dem Versuch, erwachsen zu sein und Pläne zu machen, die mich aus diesem Zustand der nervösen Lethargie rausführen sollten.
die zarte Verliebtheit ist schon lange fort und hat jetzt eine ganz eigene Familie mit vielen, vielen Fotos auf Facebook. und mein Kind hängt an meiner Wand neben den anderen Kindern. er blüht in roten Blüten auf dem Tisch. er lacht durch Zitronenwaffeln. er tröstet seine beiden Brüder. er erinnert mich an meine Empfindsamkeit und daran, wie schnell ich mich vergesse, wenn es um geliebte Menschen geht. er zeigt den Schüler*innen meiner Klasse ein Stück Tiefe. und er verbindet mich mit einer Freundin, die auch ein kleines Kind vermisst. wegen ihm habe ich ein Diplom und keinen Magister. und weil er da war, konnte ich an anderer Stelle mit einem kleinen Vogel auf dem Kopf Kinder zum Lachen bringen.
ein roter Rucksack. ein rotes Fahrrad-Verdeck. eine rote Jacke. ein roter Rock. die Menschen, die damals bei der Trauerfeier waren und ihm zu liebe mit mir Rot trugen, sind alle fort. ausnahmslos alle. sie waren zum Größten Teil schon im Sommer fort. aber in den darauffolgenden Jahren verschwanden diese Menschen bis auf die letzte Person. die, die blieben, sind die, die Schwarz trugen.
mein Tribut an die Klinik, in der er starb, wurde zurückgezahlt. der Assistenzarzt, der damals neben mir saß und mir gut zusprach, ist heute Oberarzt. er hat meine beiden noch lebenden Söhne nach dem Kaiserschnitt untersucht. er hatte mit mir den Flashback, als der Große als Frühchen in den Inkubator musste. er war mit mir benommen, als ich wieder neben dem Glaskasten saß und weinte. er hat auch eigene Kinder inzwischen.
mein geliebtes Kind,
ich kann nicht sagen, dass ich Dich in den letzten 8 Jahren gut festgehalten hätte. aber Du bist geblieben und erinnerst mich in den Fragen Deiner Brüder an unseren Weg. an unsere Zeit. und diese Nacht, in der der Mann von der Telefonseelsorge sich mehr Zeit für mich genommen hat, als er sollte. an das Geräusch des Sauerstoffkompressors. an das Fenster, an dem Dein Bettchen stand. an all die Lieder, die ich Dir gesungen habe und an den Raum der darin entstand. der Raum, in dem nur wir beide waren und nicht die anderen Kinder, die Intensivschwestern oder die Geräte. Du bist ein Teil meines Jetzt. so wie Du ein Teil meines Gestern bist. und so wirst Du mir im Morgen bleiben. ich brauche dafür nichts tun, was ich nicht kann. nur jedes Jahr wieder „ja“ sagen zu unserer Geschichte.
Ich liebe Dich.
Deine Mama
Danke für das Teilen. Mir fehlen leider die Worte, weil dieser Schmerz so unermesslich sein muss. Aber vielleicht auch das Gefühl der Verbundenheit über den Tod hinaus. LG Xeniana
es kann viel verändern, wenn wir es zulassen. und in der Veränderung liegt dann ein Teil des Zaubers, denke ich. ❤ pass auf Dich auf.