hm, wie kriege ich das auf den Punkt. dieses Gefühl von Gewöhnung an etwas, was eigentlich nicht gut ist, was aber bei zu langer Dauer zum Standard wird und alles darunter ist dann zu wenig?…
ich darf jetzt den Luxus freier Zeit genießen (ja, die Übertreibung ist gewollt). durch die Nachmittagsbetreuungsmöglichkeit für meine Kinder, kann ich nach dem Unterricht noch an der Schule socializen, Einkäufe erledigen, zuhause kochen, auf dem Bett essen und dabei fernsehen, lesen, Papierkram bearbeiten und spüren, was ich brauche. freie Zeit, aye? das ist, was ich dann mache. und ich bin einerseits glücklich und andererseits habe ich doch tatsächlich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht auch noch putze, Wäsche flicke und/oder aufräume, den Keller wieder sortiere und die Kinderzimmer sauge. ja, richtig: das ist krass.
2015, als die Belastung absehbar war, wusste ich, dass ich jetzt eine ganze Weile noch mehr würde zurückstecken müssen als bisher. ich begann mit der Vorbereitung der Trennung, suchte Informationen zu Hilfen für alleinerziehende Mütter, organisierte die Antragsformulare und ich checkte die Abgabefristen und was wem subsidiär ist. ich sprach mit Frauen auf den Ämtern und bekam sehr viele Hinweise, was ich wann wie regeln müsste/könnte/sollte. als es dann soweit war, dass ich mich kümmern musste, brauchte es 3 Monate, bis alle Hilfen auch tatsächlich angeleiert waren. in der Zeit stellte der Vater der Kinder den vereinbarten Unterhalt ein, ich bekniete meinen Regionalleiter, meinen Vertrag zu entfristen, beantragte Unterhaltsvorschuss, leierte ein Klärungsverfahren beim Einwohnermeldeamt an, machte meinen Job, kümmerte mich um meine Kinder und hatte immer wieder Stunden, zu deren Beginn ich den Kindern sagte: „Jungs, ich muss jetzt weinen. ihr dürft Yakari gucken und alles essen, an das ihr dran kommt. macht euch keine Sorgen, wenn ich fertig bin mit weinen, komm ich wieder aus dem Schlafzimmer“.
dann begann der Terror des Vermieters und ich führte Gespräche und wurde angegriffen, ich bekam Abmahnungen und mein Fahrrad war plötzlich platt und Pakete verschwanden aus dem Treppenhaus. und ich erklärte meinen Kindern jeden Tag, dass wir im Treppenhaus mucksmäuschenstill sein müssten, weil unser Vermieter sehr müde sei und viel schlafen müsse.
ich ging mit den Kindern um 20:00 ins Bett, stand um 6 auf, machte Frühstück, weckte beide, brachte sie in den Kindergarten, fuhr von da zur Arbeit, fuhr mittags heim, kochte etwas, holte dann die Kinder und fiel wieder um 20:00 ins Bett. jeden Tag. am Wochenende weinte ich.
dann das Jahr des Umzuges, dieser unfassbare Segen der neuen Wohnung in unserem Viertel in der Nähe der zukünftigen Schule meiner Kinder. also wieder auf Erholung scheißen und den Umzug stemmen mit Hilfe und Liebe und Zuspruch und Unterstützung. aber auch mit hohen Kosten an meine Gesundheit. dann kam noch die Klage des jetzt Exvermieters. zwei Steuererklärungen, die ich nicht hatte machen können in der Zeit, Vorwürfe meines Regionalleiters bezüglich meiner Krankheitstage („Du kümmerst Dich nicht gut genug um Dich! Los! Regle das!“) und ich konnte vor allem irgendwo zwischen Wut und Verzweiflung stehen und mich fragen: häh?
nein, von außen kann niemand sehen, was ich in den letzten Jahren gemacht habe. durchgemacht habe. geschafft habe. das ist auch einer der Gründe, warum ich mich darüber in epischer Breite hier auslasse! weil es wichtig ist für die Einschätzung von „normal“ für mich und für andere. und weil daran sichtbar wird, was es bedeutet, sich aus einer gewalttätigen Umgebung zu befreien. dass das nicht einfach eine Entscheidung ist. sondern ein jahrelanger Kampf.
ich wusste also von Anfang an, dass da etwas vor mir liegt, was meine Kräfte übersteigen kann. ich wusste das schon vor der Schwangerschaft mit dem Großen. denn als ich mein erstes Kind 2004 beerdigt habe, war mir klar, dass ich einen Menschen an meiner Seite gebraucht hätte. dass ich nie wieder alleine Mama sein will, sondern nur im Tandem. dass ich lieber auf die Mutterschaft verzichten würde, als mir diese Belastung zuzumuten. ich wusste das. das war meine größte Angst. und die Rechnung, die abfolgen muss, um sich seiner größten Angst lieber zu stellen als mit dem Vater der eigenen Kinder zusammen leben zu wollen, die ist nicht schwer.
all diese Belastung hätte dazu führen können, dass ich depressiv werde. ich war bereits vorher in Therapie wegen Depression. ich kenne mich in diesem Zustand. ich weiß, was dahinter liegt. welche Mechanismen da greifen. im Falle einer völligen Überforderung reagiere ich depressiv. gut zu wissen. und eine drastische Aufforderung, genau DAS zu vermeiden.
ja, ich lache auch gerade…hahaha…
ich habe also seit 2015 parallel ein Selbstdiagnose-Programm laufen lassen. ich habe gute Tage im Kalender markiert um rechtzeitig zu merken, wo sich meine Perspektive zu arg negativ verzieht. ich habe hier vieles aufgeschrieben und gleichzeitig sortiert. ich habe meine Sinneswahrnehmung hinterfragt (wenn ich depressiv bin, kann ich Gerüche nicht mehr unterscheiden und meine Geschmacksnerven können nur noch süß und salzig schmecken). ich habe meine Schlafzeiten analysiert. ja, sicher, ich hätte auch noch Sport treiben können, oder einem Hobby nachgehen, oder Achtsamkeitsübungen machen oder mehr Yoga…hahaha, genau. nein. konnte ich nicht. wenn es drin gewesen wäre, ich hätte DAS getan! um mich zu schützen!
und jetzt habe ich plötzlich Zeit. und das fühlt sich so dermaßen übertrieben an, dass ich mich immer wieder rückversichern muss, dass es ok ist! dass es nicht „zu viel“ ist, sondern ok oder sogar notwendig! ich habe in den Jahren den Zusammenhang zwischen Stress und Gewalttätigkeit spüren können! je mehr ich unter Druck gerate, desto schwerer fällt mir die Kommunikation mit meinen Kindern. je müder ich bin, desto unfreundlicher bin ich. je mehr ich MUSS, desto weniger KANN ich. ich habe das gespürt. voller Angst und Sorge, als Mutter völlig zu versagen! immer wieder stand ich voller Scham abends am Waschbecken und habe mich gefragt, ob meine Kinder meine Entschuldigung überhaupt noch annehmen können. und je öfter es passiert, desto schwerer wird es, mich zu entschuldigen, weil ich mich schäme, es nicht verändern zu können. dabei WEISS ich ja, dass dem Bedingungen zugrunde liegen, die ich gar nicht beeinflussen kann.
Zeit für mich…die füllt sich zunächst mit Zeit, die ich sonst von der gemeinsamen Zeit abzwacken musste. die füllt sich mit Essen, dass meine Kinder nicht so gern mögen. die füllt sich mit alleine fernsehen. mit ruhig werden. und plötzlich verstehe ich, dass ich nach der Arbeit mindestens eine Stund Pause brauche, weil die Arbeit in einer Schule einfach verdammt anstrengend ist (nicht mein Betreuter….die Schule). ich verstehe das jetzt. ich kann mich endlich nachsichtig anlächeln und sagen: „Minusch, Schatz, Du hattest letztes Jahr nicht den Hauch einer Chance, wirklich gelassen zu sein, weil weder Deine Arbeite- noch Deine Freizeitbedingungen den Raum gelassen zu haben, zu tun, was Dir gut tut.“
ja, das ist der Punkt an dem mir die Tränen kommen. denn: ich lese natürlich jeden ollen Artikel über Alleinerziehende, ich kenne Debatten über Kindeswohl und pädagogische Ansprüche und ich finde, dass ich schon sehr viel Hilfe kriege und es doch eigentlich alleine schaffen mag und…kann es nicht schaffen. egal wie sehr ich will. egal was ich weiß. wenn die Bedingungen es nicht hergeben, geben sie es nicht her. damit bin ich keineswegs alleine…also, schon alleine, aber nicht die einzige.
und dann höre ich eine andere Stimme: „aber Du hast doch sogar die Ferien frei!“ <<gut, aber dafür arbeite ich 5h die Woche mehr als ich ausgezahlt bekomme. geschenkt sind die nicht. ich erarbeite mir das. "ja aber schau mal, wie schwer das für Familien ist, die die Ferien nicht frei haben" <<ja, das stimmt. es ist schwer. nur leider muss ich zugeben, dass ich inzwischen fast auch lieber in den Sommerferien 3 Wochen ins Büro gegangen wäre, als wirklich jeden Mindmist meiner Kinder begleiten zu müssen. nicht, weil ich sie nicht liebe. nein. weil ich durch den Raum, den ich den beiden zugestehe, selbst keinen Raum habe.
ja, die Erkenntnis-Waschmaschine läuft auf Hochtouren und ich schaue mir beim Begreifen zu. das, was ich jetzt an "freier" Zeit habe füllt sich wie von Geisterhand mit Aufgaben. ich kann mich jetzt bald fragen: "wie habe ich das in den letzten Jahren geschafft?" und dann lächle ich milde und antworte: "mit dem großen Geheimnis aller Frauen: sich selbst ganz hinten anstellen um etwas zu beschützen, was es wert ist, beschützt zu werden"
mich braucht wirklich niemand fragen, warum ich Feministin bin. warum ich Schaum spucke, wenn jemand abschätzig über Frauen spricht. ich bin umgeben von Frauen, die alle für ein Gelingen dieser Gesellschaft Beiträge leisten, die mir die Tränen in die Augen steigen lassen! Lehrerinnen, die sich vor aggressive Schüler stellen, weil sie in ihnen einen Wert erkennen. Sozialpädagoge*innen, die im System Schlupflöcher finden für Jugendliche, die sonst überall abgestempelt werden. Mütter, die mit Einsatz und Würde ehrenamtlich Elternsprecherin/Kita-Vorstand/Kassenwärtin sind. da wird passende Kleidung weitergeschenkt, weil die Mütter ALLE wissen, welche Größen sie noch im Keller haben! da fallen Sätze wie: "Das Universum wird's schon richten, Du brauchst mir nichts geben". da begegnet Dir eine auf der Straße und fragt: "Brauchst Du Salat? wir haben zu viel". Jugendamtsmitarbeitende, die mir ihr Vertrauen aussprechen und bewilligen, was ich fordere.
das machen alles Frauen. beinah ausschließlich. weil die Männer ja auf Dienstreise sind. oder weil ihnen das keinen Spaß macht. weil sie eh nicht backen können. oder weil sie Zeit für was anderes brauchen.
ich bin eine von diesen systemrelevanten Frauen. ich unterstütze zwar nur drei Kinder direkt, aber durch meine Arbeit und mein Leben profitieren davon sicherlich etwa 40 andere. ich bin Multiplikatorin in dem was ich tue. und ich tue das on top. zusätzlich zum Tragen des Ballastes, den ein anderer Mensch einfach so ablegen durfte. weil er es wollte.
ja. ich bin noch immer wütend. wütend, weil ich mir von vorne beibringen musste, was Selbstsorge heißt und wie ich das tun kann. wütend, weil es mir so verdammt schwer gemacht wurde. wütend. und dankbar all den Frauen, die meine Anträge bearbeitet haben und mir jetzt ermöglichen, durchzuatmen. jeden Tag ein wenig bei mir zu sein. ich bin nach wie vor um 20:00 bleimüde. die letzten zwei Tage bin ich um 19:00 schon kurz weggenickt. ich zwinge mich, wach zu bleiben bis 21:30, damit ich nicht morgens um 4 wach bin, weil ich weiß, dass mich das traurig macht. ich habe zugenommen. etwa 10kg. und ich erarbeite mir, mich damit schön zu finden, weil mich nicht mein Gewicht definiert sondern meine Haltung zur Welt. ich habe eine dicken Bauch, einen Sorgenbauch. einen Mutterbauch. einen Angstbauch. einen Anti-Depressions-Bauch. einen Bauch wie so wahnsinnig viele Frauen auf dem ganzen Planeten! weise Frauen! ich habe einen Weisheitsbauch! einen Bauch voller innerer Wahrheit.
nein, ich bin nicht depressiv geworden. ich hatte depressive Episoden. aber die halte ich tatsächlich bei dieser Belastung für absolut angemessen. ich war verzweifelt. ich habe mich geschämt. ich fand mich häßlich. fett. faul. unliebenswert. das alles gehörte zu dem Abschnitt dieser Reise, in dem ich sehr viel sehr häßliches verarbeiten musste. und niemand sollte im Angesicht der Hässlichkeit von sich erwarten, ihr spurenlos begegnen zu können, denke ich. meine Augenlider hängen etwas mehr, mein Bauch auch. meine Brüste sowieso. ich hab Winkearme. naja. das ist eben alles echt…
ich weiß nicht, Mut kann ich damit niemandem machen, denn wenn das eigene Wohlergehen von einem so komplexen System abhängt, ist es mehr als fragwürdig, wann die Schmerzgrenze übertreten ist, sich dem auszusetzen. aber ich kann erklären, dass es sich lohnt, sich selbst zu vertrauen. die eigenen Gefühle anzunehmen. auch die beschissenen. sich damit ganz zu fühlen. und nicht einem umangekratzten Ideal hinterher zu rennen. alles, wirklich alles ist relativ. Schönheit, Harmonie, Glück…wir wissen nie, welchen Preis andere bereit sind zu zahlen. wir können nur unseren eigenen Preis verhandeln. und den sollten wir hart verhandeln. mit allem, was wir haben.
liefs,
Minusch
Liebe Minusch, I feel you. Du schreibst mir aus der Seele, und dein Text tut mir unheimlich gut. Ich bin in einem anderen Umfeld als du, aber das Gefühl der Überforderung mit daraus entstehenden psychischen Erkrankungen hatte ich über 20 Jahre. Jetzt habe ich mehr freie Zeit zur Verfügung und nutze sie im Moment eher, um auszuruhen, weil ich das einfach brauche. Auf einem Bauernhof gäbe es ständig etwas zum Putzen, aber ich mache da nur das Nötigste, einfach weil ich zu müde bin. Oder ich könnte einen Zusatzjob trotz gesundheitlicher Einschränkungen suchen ( mache ich auch, hab aber noch nichts gefunden). Aber es stimmt, die Selbstfürsorge und Selbstliebe ist so wichtig, gerade für Menschen, die eine soziale Ader haben. Von daher finde ich es völlig richtig, wie du damit umgehst.
Danke für die Antwort.
wir haben alle nur dieses eine Leben, nicht wahr? manches, was darin vorkommt, können wir nicht beeinflussen. anderes schon.
alles Liebe Dir, Caro. ❤
Minusch