worüber möchte ich schreiben? es gibt so wahnsinnig vieles und ich setze mich ganz oft nicht hin, weil ich nicht weiß, wie ich all diese Gedanken in einen Teppich kriegen soll. Sprache ist ein solches Thema. oder: die unterschiedlichen Annahmen über dieselben Worte. das mit dem „verwöhnen“ ist ja schon in dem letzten Beitrag aufgeflogen. aber das ist nicht das einzige. manche Menschen produzieren regelrecht Nähe über sprachliche Übertreibung und sind dann völlig perplex, wenn jemand das ernst genommen hat (das gilt RL genauso wie in Social Media Kanälen). Kosenamen für (eigentlich) Fremde, übersteigerte Begeisterung, Superlative…das alles wirkt sehr harmonisch und nah. dabei ist es in vielen Fällen eigentlich eine Bitte um ein solches Echo. „bitte tu mir nicht weh! vor mir muss sich niemand fürchten!“ eine oft nicht reflektierte Bitte. dahinter steht vielleicht die Idee, wirklich allen gefallen zu können. ein ausgesprochen exklusiver Gedanke.
inhaltlich führt dieses Verhalten irgendwann zur „abgeflachten Atmung“: „wie kann ich meine Meinung ausdrücken, ohne einen Menschen zu verletzen?“ im Vordergrund steht nicht mehr der Ausdruck der eigenen Meinung/Haltung/Beziehung zur Welt, sondern die Meinung/Haltung/Beziehung zur Welt anderer, die nicht verletzt werden sollen. das nicht-verletzen ist wichtiger als die eigene Wahrheit. dafür können sich Menschen guten Gewissens entscheiden. sie geben damit einen großen Spielraum für eigene Entwicklung auf zu Gunsten einer fiktiven Gruppe, von deren Gunst sie dann abhängig werden. wie das mit Gruppen eben so ist. aber weil diese Konstruktion auch schon greift, bevor tatsächlich Nähe bestätigt wurde, ist sie für viele Menschen eben nicht risikolos. also unsicher. also angstauslösend, also…es kann durchaus aggressiv machen.
Sprache ist so ein seltsames Ding. wir können einander alles sagen, aber wir verstehen nicht alles (außer in der von Inhalten bereinigten perfekte-Sprache-Bubble, die sogar eingene Fachworte entwickelt, um noch deutlicher ausdrücken zu können, was sie in konventioneller Sprache so irrsinnig verletzt; dort ist es nämlich so, dass das Verständnis vorausgesetzt wird, wenn Du dazu gehören möchtest. erst kommt der gemeinsame Horizont und dann die sprachliche Ausschmückung). es gibt so viele verschiedene Sprachen aber nur die Menschen, die üben, einander zu verstehen, haben eine Chance darauf einander zu verstehen. so wie Eltern, die sich ihrem einjährigen Kind zuwenden um die noch undeutlichen Laute zu etwas zu sortieren, was sie nachvollziehen können. so wie Sprachschüler*innen, die nach den ersten Begrüßungsfloskeln in der neuen Sprache an ganzen Sätzen arbeiten. wir müssen uns einander zuwenden. sonst funktioniert Sprache nicht.
nahesein.
Nähe zulassen.
nicht selten geschieht Erkenntnis auf der Basis eigener Erfahrungen. wenn die Person aber Erfahrungen hat, die sich selber nicht haben kann, kann ich die nur schwer erkennen. woher auch. alles, was ich mir diesbezüglich zusammenreimen würde, würde an einem Mangel an Informationen scheitern. eine Annäherung ist möglich. das schon, aber nicht die reine Erkenntnis. gleichzeitig unterliegt alles, was wir erfahren haben, der Erinnerung. und Erinnerungen funktionieren emotional. die Erinnerungen verändern sich ständig mit allen Gefühlen, die uns durchfluten und werden so zu etwas, was wir selbst in uns verfestigen. ganz schwerwiegende Erinnerungen an traumatisierenden Schmerzen haben ein gewisses Eigenleben. aber nichts davon funktioniert wie das Aufschlagen eines Buches.
wenn wir über Erinnerungen sprechen, filtern wir das, was wir spüren, immer wieder. und im Kopf des Gegenüber entsteht etwas anderes auf Grundlage seiner/ihrer Erinnerungen. ist das nicht großartig? kaum kontrollierbar. wild. menschlich. reine assoziativ Kreativität. Impulse, die einander antworten. deswegen sind zuhören und sprechen auch so schöne Beschäftigungen, wenn sie in Ruhe geschehen: so kann Nähe entstehen. ein geteilter wundervoller Moment, gegenseitiger Offenheit. wenn beide die Impulse zeigen, die in ihnen sind.
aber wir nutzen dieses Instrument nur noch sehr selten, wie mir scheint. oder täuscht mich da meine Erinnerung, weil ich eher im Team spreche als privat? weil ich so selten den Menschen gegenüber sitze? möglich…mir fehlt sicher Augenkontakt.
hätte ich mehr Augenkontakt, würde ich Social Media (und ich zähle Messenger mal dazu) weniger nutzen? macht das den Unterschied? Nähe auf Social Media bleibt immer vage. und wenn Du erstmal aus ein zwei Filterbubbles rausgepurzelt wurdest, sowieso. das Thema eint die Gruppe. nicht die Einzelpersonen. Abgrenzung. nicht Zuwendung. das ist logisch. das ist nicht mal verletzend.
früher war Nähe ein Gespräch bis in die Morgenstunden. wer Kinder hat, wagt das kaum noch. und selbst wenn ich wollen würde, so spontan kann ich ja niemanden bitten, bis in die Morgenstunden bei mir zu sein. das geht nur mit Sex. und auch dann nur eher aus Versehen. glaube ich. also geplant hatte ich das nie. und es passiert auch eher selten.
heute ist Nähe eine hohe Frequenz an WhatsApp-Nachrichten. viele Favs auf twitter. nette Replies. eine gefiltert Nähe, die sich auf das bezieht, was dort gezeigt werden kann. nicht den ganzen Menschen. die Worte. das Thema. die Sprache. ein Foto vom Kuchen und nicht sein Duft, nicht wahr? Relativität von Wirklichkeit. wir teilen Geschichten aber nicht die Tränen oder die sprachlosen Momente. wir möchten Nähe, setzen sie aber nicht um. wir „wären gerne bei Dir“ und sind es nicht. weil der Energieaufwand übersteigt, was wir geben können. weil wir ohnehin zu wenig Zeit haben. müde sind. emotional im Defizit leben. weil erst Nähe da sein müsste…
manche beschreiben Tag für Tag ihr Glück, als wäre genau dies ein Zeichen von Dankbarkeit. ich habe einen „Liebsten“ und er ist wunderbar. meine „Beste“ holt mich heute Abend ab. die „Schwiegis“ nehmen die „Kleinen“ und wir können ausgehen. lauter schöne kleine Alltäglichkeiten, die nicht jeder*r haben kann. vielleicht schätzen wir das Single-sein zu gering? oder schätze nur ich es gering, obwohl ich es nicht gering schätzen möchte? vielleicht müsste ich Sätze schreiben wie:
-heute morgen konnte ich wieder einfach auf twitter surfen und niemanden hat es genervt
-zum Frühstück habe ich samstags immer meine Lieblingsbrötchen, weil ich sie mir selber hole
-heute hat mich niemand verletzt
-meine Zahnpastatube ist immer zu
-meine Mens ist zwar überfällig, aber es macht mir nichts aus, weil niemand in mir einen Samenerguss hatte im letzten Monat
mit der Nähe der anderen kommt ja immer auch ein Überraschungsfaktor mit. vielleicht ist der gar nicht immer so schön. vielleicht ist es ganz toll, sich sicher sein zu können, einfach mal ein halbes Jahr lang nicht verletzt zu werden. kann ich Nähe verlernen? oder steigen die Ansprüche an Unverletztheit und sortieren dann einfach schneller Menschen aus, die mich wahrscheinlich verletzen würden oder es direkt in den ersten 48h Kennenlernen getan haben?
ich gehe davon aus, dass es keine erschöpfende und umfassende Antwort geben kann. dass wir alle einfach vorwärts leben und rückwärts verstehen. dass nichts daran vorbei führt, das zu versuchen, wonach wir uns sehnen. und wir dann eben verarbeiten, wenn es weh getan hat. immer wieder.
da sind noch viel mehr Gedanken. und ich würde jetzt gern am Frühstückstisch sitzen und darüber reden. vielleicht in 10 Jahren mit den beiden Kindern. und was mach ich bis dahin?…in 10 Jahren werde ich wissen, was ich damit getan haben werde.
Liefs,
Minusch
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