wohin ich gehe

die stetigen kleinen Schritte sind das Geheimnis. nicht die dicken Sprünge. diese kleinen, schwarzen auf dem weißen Boden, die sich so entschlossen abheben von der Konturlosigkeit der Zeit. ich übe mich weiter darin, meine Sprache für all das zu finden. und ich spüre immer wieder deutlich, dass sehr vieles wie ein Einfluss aussehen mag aber eigentlich fatale Bewertungen sind.

gestern habe ich einen Vortrag von Bertrand Stern besucht. ich saß alleine in der ersten Reihe (hinter mir etwa 25 andere), bis sich eine der Organisierenden dazu gesetzt hat. hinter mir ein Paar mit politischem Anspruch. irgendwo ein zwei Skeptiker*innen. eine Mama mit einem Neugeborenen, das immer wieder zufrieden schmatzte. es ging um die Abschaffung der Schule. Bam. riesen Inhalt. Titel: „frei sich bilden“. Betrand Stern bewertet Schule als Institution zur Ausübung eines Zwanges der Selektion. er begründet alles ganz deutlich und klar und feiert „die mutige Mutter“, die in der Lage ist, einen Menschen (den Begriff „Kind“ lehnt er ab, weil dieser Begriff dazu führt, dass wir diesen Menschen Rechte vorenthalten, aber der Begriff Mutter ist ok) vor den Schäden der Schule zu schützen.

Bertrand Stern hat etwa eine Stunde lang seine Argumentation sehr gut verständlich aufgebaut und eine Menge Menschen mitgerissen. viele Frauenstimmen lachten bei seinen Anekdoten und viele seiner Bewertungen führten zu erkennenden „aaaaahs“. ich habe mir diese Momente nicht notiert, weil sie mich aufgeregt haben. überhaupt habe ich da vorne gesessen und mich geärgert. immer wieder. ich habe 5 Seiten gesketchte Mitschrift voller philosophischer Logik und passenden Schlussfolgerungen und fühlte mich trotzdem, als hätte ich eine Show besucht.

versteht mich nicht falsch: ich gehöre zu den Schulkritikerinnen. von außen wie von innen. ich sehe Noten als Druckmittel an, ebenso wie Elternbriefe und Bußgelder bei Nichtbesuch. ich sehe in der Schule nach wie vor dieselben Sanktionsformen wie vor 30 Jahren und betrachte das als systemische Bankrotterklärung. ja, mir fällt auch auf, dass es eine Bewegung gibt, die etwas anderes will. neue Schulen zum Beispiel. Betrand Stern lehnt auch jede andere Art von Schule ab, weil Schule auch mit anderem Schild an der Tür bedeutet, dass sie einem Paradigma folgt, welches seinem Axiom „der Mensch möchte frei sich bilden“, zuwiderläuft.

ich erkläre kurz, warum er von „frei sich bilden“ spricht und nicht von „sich frei bilden“:
Betrand Stern geht davon aus, dass jeder Mensch sich bilden möchte. nicht in dem Sinne, dass als scharf darauf sind, Workshops und Seminare zu besuchen. aber in dem Sinne, dass der Erwerb von für sich selbst relevantem Wissen einfach zur Natur des Menschen gehört und dass beispielsweise die Bewertung von Wissen oder die Festsetzung eines Zeitpunktes, wann ein Mensch was zu wissen hat, dem freien sich bilden im Wege stehen. denn frei soll es sein. das freie sich bilden entspricht laut Betrand Stern der menschlichen Natur. die institutionalisierte Bildung widerspricht dieser.

ich könnte mir inhaltlich mit Betrand Stern in vielem einig sein. unter anderem auch in der Ablehnung einer elitären Spitze in der Gesellschaft. oder darin, dass Schule auch ein kriminalisierendes Element hat. ja, ich frage mich auch, warum wir etwas Schulpflicht nennen, wenn wir dieser Pflicht nicht widersprechen können (wie es zum Beispiel bei der Wehrpflicht irgendwann möglich war). ja, ich sehe auch die Problematik der behördlichen Betreuung und letztlich Leitung der Schulen und dass diese Menschen im Kultusministerium kaum zu fassen sind. ja, ich wünsche mir auch einen Systemumbruch, in dem Arbeit eine andere Bewertung erfährt und Menschen nicht beim Fehlen von Arbeit entwürdigt werden.

was ist also mein Problem mit dem, was ich da gestern erlebt habe?

ich versuche eine Annäherung…

Betrand Stern spricht in Form eines Vortrages. heute wird es noch einen Workshop geben, aber gestern war es ein Vortrag. er hat ein Ziel. er macht Werbung. nicht nur für seine Haltung und die Idee dahinter, sondern auch für seine vielfältigem Publikationen und seinen Film, der die Gesellschaft aufrütteln soll. seine Plakate sind im Vielfarbdruck auf Hochglanz hergestellt. er schaut nachdenklich aus dem Print heraus. um den Hals ein Paisley-Seidentuch, dazu eine Weste und darunter ein Hemd. bei dem Vortrag trägt er ebenfalls Hemd und Weste, ein zart geknotetes Paisley-Seidentuch, ein Cord-Sakko, eine helle Hose und Wildlederschuhe. er macht Witze über seinen Nachnamen, als ihn die Sonne blendet und fragt sich, ob wir eine Sternstunde gehabt haben werden, die uns heute nacht vielleicht nicht schlafen lässt. er zettelt die Revolution an.

im Publikum sitzen primär Frauen. die ausführlichsten Fragen stellen zwei Männer. eine Frau fühlt sich missverstanden, als er ihre Aussage überspitzt wiedergibt. eine Frau möchte einen Tipp, eine andere fragt, ob es im Workshop darum gehen wird, einen Weg zu finden, ein Mann bittet darum, auch in einer exemplarischen Aufzählung das N-Wort nicht zu benutzen. an dieser Stelle bestätigt Herr Stern mein ganzes gesammeltes Unwohlsein: er stellt sich darüber.

als die missverstandene Frau ihn korrigieren will, zeigt er Ansätze, ihr über den Mund zu fahren. die Frau, die sich einen Tipp wünscht, wird zurück gewiesen. es gebe keinen Weg, sie müsse die Lösung schon alleine finden. und das N-Wort habe er ganz bewusst benutzt, daher sei es keine rassistische Äußerung.

ich fühle mich an katholische Gottesdienste erinnert, in denen ein Ideal gepredigt wird und kein Mensch erklärt, wie das gehen soll. ja, St. Martin hat seinen Mantel geteilt. aber wenn in Darmstadt an jeder Ecke bettelnde Menschen sitzen und mich ansprechen, kann ich meine Jacke nur mit zweien teilen und dann werde ich krank und kann nicht arbeiten gehen…achso, es reichen ein paar Münzen im Klingelbeutel? nagut. bei Betrand Stern funktioniert das ähnlich: schärfe Deinen Geist, sei eine mutige Mutter! DU WILLST DOCH DASS DEIN KIND FREI UND HEIL AUFWACHSEN KANN, ODER?…übrigens: da vorne liegt meine frisch gedruckte autobiographische Betrachtung, Du kriegst sie heute günstiger und ich schreibe Dir auch eine Widmung rein.

Betrand Stern berührt uns an einer empfindlichen Stelle. aber ich unterstelle, dass es ihm eigentlich nur um sich selber geht…da vorne stand kein brennender Anführer einer Revolution. da vorne stand ein kleiner Junge, der beschissene Erfahrungen mit der Schule gemacht hat und der davon lebt, gegen diese Institution zu kämpfen. naja, kämpfen, zu schreiben. es ist ihm ein Anliegen. ein echtes Anliegen. und es scheint Inhalt seines Lebens zu sein. daran ist nichts schlechtes.

schlecht ist für mich, dass Betrand Stern seine eigene Position nicht klar genug reflektiert. schlecht sind für mich die vielen aufheizenden Witzchen und markigen Sprüche. schlecht ist für mich, daran verdienen zu wollen, dass andere auch schlechte Erfahrungen haben und deswegen händeringend Hilfe suchen. schlecht ist, dass er auch auf Nachfrage seine Quellen nicht belegt. mag sein, dass er dies in seinen Büchern tut aber dafür müsste ich erst eines kaufen.

da stand also gestern ein Mann, der schon durch seine Kleidung ausdrückt, zu welcher „Klasse“ (haha! witzig) er gehört (Philosoph (im Selbst-Studium), alte Schule, männlich, weiß, frei, kreativ) und singt ein Lied von Freiheit, das mehr soll, als einladen. er möchte uns anstecken. mitreissen. ermutigen. aber er bietet nichts an, was „danach“ kommen könnte. das sollen wir selbst entwickeln. jede Familie für sich, wobei er Familien oder Väter gar nicht erwähnt. nur Mütter.

kleine Schritte, nicht wahr? ich habe sie oben erwähnt. sie heben sich ab. so wie jetzt. gestern in diesem Raum waren sich alle einig, dass Betrand Stern da etwas Großartiges beschrieben hat. Großartig, ja. die Vision von Freiheit. dieselbe Freiheit, die bereits heute Menschen verzweifeln lässt. Freiheit, die nicht jeder nutzen kann, weil zu ihrer Nutzung Ressourcen gehören. Freiheit, die Menschen alleine lässt („die Lösung kann heißen, Netzwerke! die Frau hatte Netzwerke“…na? welche Menschen haben Schwierigkeiten, Netzwerke zu bilden? irgendwelche Ideen?).

keine Sorge, ich werde lieber für Freiheit kämpfen als für Unterdrückung. aber in allem, was mir wichtig ist, liegt der Kern des Mensch-seins. das, wofür ich mich einsetzen kann und werde, ist Mensch sein zu können. und wenn wir Schulen abschaffen, was vielleicht irgendwann passieren könnte, dann nur, wenn das, was danach kommt, nicht die Menschen benachteiligt, die zur Erwerbstätigkeit gezwungen sind, weil sie eben kein elterliches Vermögen verwalten können.

lieber Betrand Stern: ich werde heute Deine Werkstatt nicht besuchen, denn ich definiere meine Rolle ebenso selbst wie meine Kritik. und dafür brauche ich keinen freischaffenden männlichen Philosophen. dafür brauche ich die Rückmeldung von Kindern und Jugendlichen…oder von beschulten Menschen, wenn Du so willst. und übrigens: freie Menschen müssen sich nicht siezen.

revolutioäre Grüße
Minusch

9 Antworten auf „wohin ich gehe

  1. Herzlichen Dank für diesen vielschichtigen Bericht, der ein lebhaftes Bild vor meinem inneren Auge erweckt hat. Ich hab das Buch von André Stern gelesen, in dem er drüber schreibt, wie wunderbar einfach es fällt, das Aufwachsen seines Sohnes ideal zu begleiten und da sind ähnliche Gedanken in mir aufgestiegen. Dass es ein toller Luxus ist, wenn man so leben kann, aber nicht massentauglich.

  2. Habe länger nicht bei Dir gelesen, heute bist Du mir wieder eingefallen 😉 . So wie Du diesen Vortrag schilderst – mich macht dieses abgehobene und weltfremde Gebaren eher sauer. Bin Lehrerin an einer Schule mit Schülern, deren Eltern sicher nie einen solchen Vortrag besuchen würden. Was würde aus meinen Kindern und Jugendlichen wohl werden, ohne die Institution Schule, wo sich mal Menschen kümmern und verlässlich da sind und versuchen, Bildung und Werte zu vermitteln? Natürlich hat dieser Mensch da nur sein eigenes gut bildungsbürgerlichen Milieu im Hinterkopf, eben die Leute, die seine Bücher kaufen würden. Aber ich bezweifle, dass diese Menschen auch die Kinder aus den anderen Familien auffangen würden. Schule sollte gestärkt werden, offen, bunt und tolerant gestaltet werden, da können gern alle mithelfen. Kritisieren ist leicht, verändern ist schwer. Liebste Grüße

  3. ich steh da ganz bei Dir, Franzi…die Ausgangssituation ist ordentlich elitär und keineswegs verallgemeinerbar. und ich sehe auch eine Menge Kinder, die von der Schule so wie sie derzeit ist, profitieren können.

    und: ich finde, die Kinder und Jugendlichen sollten gefragt werden. nicht die Rentner ;-))

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