lippenbekenntnisse

gestern habe ich mit einem Freund gesprochen. er hat gesagt, dass ich ihn doch um Hilfe hätte bitten können. und ich antwortete: „ich habe mich geschämt.“ und er lächelte und erinnerte mich daran, dass ich doch diejenige sei, die von Scham immer behauptet hat, dass sie keinen Sinn mache…

heute ist der 1. September 2018. nachher gehen wir zum Golden Leaves Festival (mit Sonnenbrille, weil mich wahrscheinlich die Live-Musik völlig umhauen wird). ich habe nur noch ein Paar Schlüssel und nicht mehr zwei. mein Keller ist zwar total vollgestopft, aber das, was ich nicht wegkonzipieren konnte, ist jetzt immerhin hier.

Menschen, die hier reinkommen, machen lustige Geräusche wie: „Sweeeeeet, Minusch…“ oder „awwwww, die Balken! der Balkon! die Fenster!“…der Freund gestern war ganz still und sagte nur, dass er es sehr schön fände. Kinder, die hier rein kommen, flitzen die Treppe rauf, stellen sich auf Hocker und gucken aus dem Fenster. und meine Kinder strahlen stolz, dass sie so besondere Zimmer haben.

ich habe in den letzten Monaten an Substanz verloren. körperlich. wirtschaftlich. materiell. seelisch. mit allem Für und Wider (meine Lieblingshose rutscht mir über den Arsch, sobald ich 10 Cent in die Hosentasche stecke). ich habe Klamotten zur Altkleidersammlung gebracht, Möbel verschenkt, Matratzen getauscht, Give-Kisten rausgestellt und Kram zum Recyclinghof gefahren. alles zusätzlich zum Alltag. alles zusätzlich zur Begleitung meiner Kinder, die gerade immer wieder zeigen, dass es auch ihnen zu viel ist und ich arg vorsichtig sein muss mit dem, was ich erwarte…ein ekelhafter Spagat, wenn Du eine Deadline hast und weißt, dass Du alleine all das in zwei Arbeitstagen hinkriegen würdest aber tatsächlich maximal 3h am Tag Zeit hast und diese 3h auch die Zeit mit Deinen Kindern ist.

ja, ich weiß ganz genau, warum ich ab Mittwoch mit den Nerven runter war. ich weiß, warum ich Donnerstag heulend auf dem Bett saß. ich weiß, warum ich gestern auf dem Klo zusammengebrochen bin. ich weiß, warum ich auch jetzt gern weinen möchte.

ich hatte auf eine ruhige nächste Woche gehofft, aber da ist Ämterpost. da ist Post von dem Inkasso-Unternehmen der BahnCard (ey…ehrlich…ich hab es vor zwei Wochen überwiesen…). da ist die Kreditkartenabrechnung aus dem August. DSL spinnt seit zwei Monaten. bald kommt die book-n-drive-Abrechnung für die vielen Umzugsfahrten mit dem Caddy. das Konto war nicht schwarz, als der Monat begann. und das, obwohl ich Hilfe bekommen hatte. Himmel, was wäre gewesen, wenn das nicht gewesen wäre…ich weiß es nicht. und es bleibt das Gefühl, irgendwie über meine Verhältnisse gelebt zu haben.

ja, ich habe für meinen Großen schöne Schulsachen gekauft. gute Sachen. aber wir haben nicht die ganze Verwandtschaft zur Einschulung zum Essen eingeladen sondern eine Freundin zu Schwimmbad und Pommes. ja, ich habe was neues für die Wohnung angeschafft: 3 Sitzkissen, ein Wal-Poster, drei Bilderbücher, einen Wassersprudler und türkise Servietten. kein Teppich, keinen Schrank, keine Gardinen. am teuersten ist mich die Renovierung der alten Wohnung gekommen.

die Möbel, von denen ich dachte, ich könnte sie verkaufen, habe ich verschenkt. Karma, you know? ich hab ja auch die Möglichkeit umzuziehen geschenkt bekommen.

und es gab einen Tag, da habe ich Geld für unnützen Kram ausgegeben. ich war so schrecklich müde und traurig. und wir standen bei Thalia. ich wollte mir dort für die Arbeit so einen Bambus-Kaffee-Becher holen. und dann standen da diese Tassen und meine Kinder meinten, die Tasse mit „du bist die beste Mama der Welt“ sei für mich und irgendwann würden sie mir die mal schenken, wenn sie groß sind. und ich habe diese Tasse dann gekauft. und drei Postkarten. heulend. und ich habe währenddessen schon gedacht: „Du bist doch nicht ganz sortiert! Du hast für sowas kein Geld!“ aber ich wollte mir so gern selber auch gut tun, so wie früher…

Scham.

mein Keller: Scham.

dass ich Dinge verschenke, obwohl ich sie eigentlich verkaufen müsste, weil wir das Geld brauchen: Scham.

der Zustand meiner Wohnung: Scham.

meine Müdigkeit: Scham.

mein Zusammenbruch: Scham.

dass ich nicht meine Stunden auf Vollzeit aufstocke sondern mein Kind von der Schule abhole: Scham.

etwas ist in der neuen Wohnung kaputt: Scham.

rational alles kaum Punkte, die mich angreifen könnten. emotional the Pit an the Pendulum.

was mach ich damit? was macht es mit mir? was macht es aus mir?

gut daran ist, dass ich so noch viel existenzieller nachdenke und entscheide. reduzierter. naja, mir hilft auch die Sicherheit des neuen Zuhauses. einerseits kann hier wirklich niemand in die Wohnung reingucken, weil die Fenster alle zu hoch sind. dann ist es auch so, dass ich niemanden in diesem Haus hören kann. also kann ich dann ausgehen, dass ich nur gehört werde, wenn ich die Wohnungstür aufmache. das ist ein riesiger Unterschied zu der anderen Wohnung auf Höhe des Sparkassen-Fortbildungs-Raumes und direkt über meinen Vermietern, die meine Geräusche teilweise mit Gegengeräuschen beantwortet haben.

gut ist auch, dass die Zimmeraufteilung der neuen Wohnung sich unglaublich auf meine Familie auswirkt. dadurch, dass die Küche, der arbeitsintensivste Raum, in der Mitte liegt, sind wir einander näher, auch wenn wir in unterschiedlichen Räumen sind. also: wir können uns voneinander zurückziehen, da wir das aber bisher kaum wollen, können wir einander nahe sein, ohne uns auf die Pelle zu rücken. ein Blick in eine entspanntere Zukunft…

die Prognosen sind gut, denke ich. ich wage keine Bestandsaufnahme oder Situationsanalyse. aber vor uns liegt der Herbst. der Herbst ist sehr wertvoll. und wir werden der Welt von oben zuschauen können. die Mückenstiche werden verheilen. die Wolken werden den Himmel strukturieren oder abdunkeln. die Nächte werden leiser werden. die Vögel der Gegend kennen schon unser Vogelhäuschen. und in den Herbstferien fahren wir tatsächlich zu einem unserer guten Geister in die Schweiz.

will ich zu viel? verschätze ich mich? ist mein Wunsch, mit Minimum-Wage ein Leben ohne Angst führen zu können, schon überzogen? gebe ich Geld aus, dass ich auch sparen könnte? ist es falsch, mich um mein Kind zu kümmern anstatt zu arbeiten? ist die finanzielle Unsicherheit der Preis für körperliche uns seelische Unversehrtheit? und stellt der Vater meiner Kinder sich auch solche Fragen?

in meinem Leben ist so vieles ertrotzt. bin ich auch trotzig, wenn ich kompromisslos bleibe und darauf bestehe, dass ich nicht mehr leisten kann, als ich bereits tue? wie scharf darf ich uns schützen? in welchem Punkt überschreite ich die Angemessenheit? wieviel Raum für uns darf ich fordern?

…und wenn mein Vermieter bemängelt, dass die Wohnung unsauber wäre, wofür habe ich überhaupt geputzt?

ich bin dankbar für all die Menschen, die rückmelden, dass sie etwas verstehen. ich bin dankbar für Hilfe. dankbar für Aufmerksamkeit. vor kurzem hatte ich ein lustiges Buch über die Faultier-Challenge im Briefkasten…das war total süß. ja, die kleinen Dinge helfen immer wieder. sie trösten darüber hinweg, dass ich nicht sicher sagen kann, was richtig und was falsch ist. dass ich so vieles nicht verstehe. dass meine Gefühle mich überholen. und dass ich derzeit einen so beschränkten Aktionsradius habe.
aber ich werde älter werden und ich plane schon jetzt mein Engagement für diese Zeit. das, was ich bekomme, gebe ich weiter. so halte ich es für richtig. und so halte ich es für notwendig. ich weigere mich, mich als ein schwarzes Loch zu sehen, das Hilfe verschluckt. ich habe mir so einiges nicht ausgesucht und tue mein Bestes, klar zu kommen. ich schmeiße alles in die Waagschale. wieder und wieder. ich rede darüber, schreibe darüber, ich bemühe mich, andere zu unterstützen…

ein Gruß an all die verlotterten Menschen da draußen, die den Alltag eben nicht auf der linken Arschbacke absitzen und abends trotzdem spüren können, warum sie das alles durchziehen.

Liefs,
Minusch

6 Antworten auf „lippenbekenntnisse

  1. Wenn die Sonne scheint, gehe ich raus; statt die acht Maschinen Wäsche zu verräumen (ungebügelt, teilweise ungefaltet in die Schrankfächer zu stopfen), die sich in und um den Wäschekorb vor dem Bett türmen und in denen ich am nächsten Morgen fluchend nach zwei halbwegs passenden Socken mit ähnlichem Muster wühlen werde.
    Ich weise die Kinder an, die Haustür immer geschlossen zu halten, damit die dauerputzende Nachbarin, deren Weg mehrmals täglich an unserem Eingang vorbei führt, den Dreck zwischen den Schuh- und Jackenbergen nicht mit ihren zusammengekniffenen Augen unter der gerunzelten Stirn erspäht.
    Ich zucke nicht mehr zusammen, wenn einer von zwei Stausaugern über mir zum dritten Mal am Tag aufjault und sich vier Hundehaare von dem blankgescheuerten Fliesenboden einverleibt.
    Oder mir meine Tante erzählt, dass es schließlich kein Problem sei, auf zwei kleine Kinder aufzupassen. Sie (kinderlos) habe das damals schließlich auch ein Jahr lang als Aupair gut geschafft.
    Ich lächle, wenn die Kinder mich beim Aufräumen fragen, wer zu Besuch kommt.
    Und trotzdem frage ich mich abends manchmal, wie andere das machen: so organisiert, diszipliniert und stringent die eigenen und die fremden Erwartungen zu befriedigen und nicht an all den kleinen Baustellen zu scheitern, die der Alltag so mit sich bringt. Ob ich nicht einfach etwas weniger leben und stattdessen besser funktionieren sollte. 🙃

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