Wanda fragte sich so viele Fragen. Tag für Tag andere. die Fragen hatten das Potenzial, ihren Kopf so in Aufruhr zu bringen, dass am Ende eines jeden Tages der Konflikt darin bestand, die Antworten zwar so sehr zu wünschen, sie aber nicht verfolgen zu können. es war mit den Antworten wie mit den Menschen. sie lächelten sie an, kamen näher, wurden undeutlich und verschwammen schließlich zu Kopien anderer Antworten oder Menschen und Wanda geriet ins Straucheln.
keine Antwort blieb. es war schlimmer als ein Proseminar zu Verschwörungstheorien. oder grundsätzlich Philosophie. mit jedem Schritt näherte sich die Leere. nie die Erfüllung.
Wanda wischte mit dem feuchten Lappen die Türklinge und den Türrahmen ab. jeder Handgriff jetzt entlastete sie vielleicht später. vielleicht. oder sie vergaß ihn einfach wieder. so war das mit dem Haushalt eben. Du mühst Dich ab, räumst weg, mistest aus, wischst drüber und arrangierst. aber letzten Endes sagt sogar Marie Kondo, dass Du selber schuld bist, wenn es nicht hinhaut mit der Ordnung. einfach mehr wegschmeißen! oder gar nicht erst kaufen! erst recht keine Aufbewahrungshilfen. So gesehen ist die Ikea-Abteilung „Aufbewahrung“ wohl sowas wie die Spielhalle von heute. süchtig machende ordentliche Kästen. rechte Winkel. klare Farben oder gefällige Musterungen. wie ein Heilsversprechen: „Wenn Du in mir verstaust, was Dich stört, dann siehst Du es nicht mehr und es ist dennoch immer da“.
sie schaute aus dem Fenster. oder gegen die Rolläden. eigentlich sah Wanda in das Fenster auf die dreifache Brechung des Lichts durch die Schlitze der Rolläden. ja, genau so war es mit Menschen wie mit Antworten. alle bewegten sich nur in gut isolierten Scheiben und es gab keinen Kern mehr zu ertasten, weil dieser nicht ertastet werden sollte. und auch wenn Antworten sich sicherlich nicht selbst isolierten, so sorgt doch die Isolierung aller anderen um uns herum, dass wir alles mit mehreren Schichten betrachten und nie die Mitte treffen, weil keiner mehr weiß, wie es sich anfühlt, die Mitte zu treffen.
was am inneren der Menschen ist eigentlich so häßlich, dass niemand es sehen soll? warum gelten müde Menschen nicht als schön? warum ist ein dicker Bauch nicht ein Hinweis auf das gelebte Leben sondern ein Indikator für Willensschwäche? und warum wird Freiheit in Geld gemessen und mit Leistung finanziert?
worum soll es gehen? wovon handeln wir? welche Geschichten erzählen wir unseren Kindern? Geschichten von geplatzten Dates und sexueller Vielfältigkeit? Geschichten von Verzicht für Konsum? vom Genuss des Feierabends nach einer 50h-Woche? welche Farbe hat ein solcher Feierabend denn? und wenn wir keine Kinder bekommen wollen, weil das, was wir haben, zu wertvoll ist, um es zu teilen, wem erzählen wir dann die Geschichten? oder ist das Ziel nicht, Geschichten erzählen zu können? was ist das Ziel?
ihr Blick folgte den Mustern der Lichtflecken durch die Wohnung. auf dem Boden erinnerten sie Wanda an Kontrollverluste und das Gefühl von am Schweiß des Rückens festklebendem Staub. an seine Hände. sein Gesicht. diesen verzweifelten Blick, als wollte er fragen: was an dem hier ist wirklich? das ist der schönste Gesichtsausdruck, den ein Mensch haben kann. diese eine Frage in der hechelnden Bewegung. ineinander verklebte Haut, schnüffelnde Lippen, Druck in allen weichen Stellen und dann diese Frage. das war kein Sex mehr. das war Gleichzeitigkeit in der Bewegung. jedes Innehalten ein Gefühl voller Kraft. jede Bewegung zuhause. schmutziges Glück.
es war so lange her.
Wanda legte sich ein Kissen auf den Bauch, wie sie es immer tat. ein Kind lachte aus dem Flur herüber, versunken in seiner eigenen Wirklichkeit. ein Kind schlief, optisch tot und innerlich lebendiger als am letzten Abend beim gemeinsamen Fernsehen. es war schwer auszudrücken, was diese beiden Kinder ihr bedeuteten. Wanda wünschte sich ein ganzes Kapitel zu diesem Thema, aber es gelang ihr nicht, es zu schreiben. was hätte sie auch schreiben können? das Innenleben dieser beiden Wesen war ihr unbekannt. sie sah immer nur deren Interpretation von richtig und falsch in ihren Bewegungen und hörte das Echo ihrer eigenen Worte von ihren Lippen. wenn Wanda der Triangulationspunkt ihrer Kinder war, ihre Landmarke, ihre Skala, dann war es unmöglich, in dieser Doppelung von Wirklichkeit zu erkennen, wo die Differenzen tatsächlich lagen. aber genau diese Differenzen wären das einzig wichtige dieses einen Kapitels über die eigenen Kinder.
ein tiefer Atemzug. tanzender Staub. wie abgedroschen.
„auf mit Dir“, sagte Wanda halblaut zu sich selbst. es war mal wieder Zeit, Dinge wegzuwerfen. Wanda löste sich aus ihrer Ordnung heraus und schritt über die Lichtflecken der Vergangenheit hinweg. der Staub unter ihren Füßen war taktil unsichtbar. Laminat, PVC, Baumwollbrücke. und dann stand sie auf den braunen Fließen im Badezimmer, griff nach den benutzen Putzlappen, warf sie in die Waschmaschine und wählte 60 Grad. gern hätte sie sich auch selbst in die Trommel gelegt, um bei 60 Grad gereinigt zu werden und strahlend und sauber anschließend ein paar Stunden an der Luft zu hängen, bis sie zusammengefaltet einen Moment Ruhe im Wäscheschrank finden würde.