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„wenn Du mal tot bist, Mama, dann bist Du schon eine Oma, oder?“
ich streiche die rote Tischdecke glatt und schaue zu meinen Jungs rüber und lächle.
– „also ich werde hoffentlich ganz alt sein. aber ne Oma werde ich nur, wenn ihr Eltern werdet.“
„darf ich dann immer noch Mama zu Dir sagen?“
– „sicher! Oma werde ich ja von Euren Kindern sein. aber ich bleibe Eure Mama.“

mein lieber Kilian,

wir sprechen über Dich immer mit einem Lächeln. dadurch, dass ich meinen Kindern von Dir erzählt habe, weiß ich, wie Kinder sich ihre Eltern aussuchen: sie lauern als Stern zwischen all den Sternen und schauen sich alle Eltern gut an. und wenn sie die richtigen sehen, fliegen sie zur Erde, kitzeln die Mama an der Nase, und wenn die Mama zum Niesen tief einatmen muss, flitzt das Sternchen mit der Luft durch die Nase und macht es sich dann im Bauch gemütlich, um dort zu wachsen.

der Große sagt, dass das alle Kinder so machen. und da ich durch Dich weiß, dass Frauen, wenn sie in Frieden mit sich sind bemerken können, wenn in ihnen ein Kind gezeugt wird/wurde, bin ich tatsächlich geneigt, diese Version zu glauben.

ich hab mich oft gefragt, wie es wäre, wenn Du hier geblieben wärst. wahrscheinlich gäbe es dann diese beiden Brüder nicht, weil ich nicht glaube, dass deren Vater es ausgehalten hätte, in Deiner Nähe zu sein. aber ich stelle mir es jetzt wieder vor. wie es wäre, wenn die zwei Jungs einen großen Bruder hätten. einen, der schon auf der weiterführenden Schule ist und vielleicht Skateboard fahren kann. einen großen Bruder, in dessen Zimmer es immer wieder müpfelig riecht, weil er am Wochenende eine Nacht lang durchgezockt hat. bei dem sich Dreckwäsche unterm Bett staut und mit dem ich mich wegen sowas anlege. ein großer Bruder, der einfach sagen kann: „klar geh ich mit Euch raus, wenn Mama noch nicht fertig ist mit der Wäsche. wir gehen vor, Mama!“

ein Teil von Dir lebt hier noch immer. Deine Brüder kennen die Fotos von Dir. Du bist eben von woanders aus ihr Schutzengel. Dein Name ist sowas wie ein typischer Engelname für sie. eine Gleichbedeutung von Engel und Kilian. ich bin mir nicht sicher, ob Dir das gefällt. die Idee kam auch nicht von mir. aber, naja…kleine Brüder dürfen das, oder?

so wie ich mit Dir allein war, so bin ich es jetzt auch mit den beiden. die Großeltern interessieren sich wieder für die Kinder und nicht für die Mutter und es hat was von einer verdrehten Zeitschleife. Dein Vater war genauso abwesend, wie der Vater Deiner Brüder es jetzt ist. das spricht nicht unbedingt für meine Menschenkenntnis, ich weiß.

aber: schon damals wurde mir gesagt, dass ich eine gute Mutter sei (zumindest bis ich angefangen habe, durch das Antidepressivum hindurch auf meinen Bauch hören zu wollen…das fand das Jugendamt doof). und auch jetzt bin ich eine gute Mama. in dem Punkt habe ich von Dir schon viel gelernt, was mir jetzt hilft.

alles, was ich hier alleine entscheiden kann, ist gut. heute habe ich entschieden, dass wir wieder rote Blumen haben. Begonien. die sind so eine nette Mischung zwischen Leben und Tod und stehen jetzt auf dem Tisch. keine weitreichende Entscheidung, aber eine für Dich. ich hätte eigentlich gern einen dicken Strauß gekauft, aber das wird die nächsten Jahre Ende März nicht drin sein, weil in der Nähe Deines Todestages immer irgendwo Ostern liegt aber auf jeden Fall auch die Geburtstage Deiner Brüder und die Feiern der beiden. ich habe beschlossen, Geburtstage wichtiger zu finden, als Todestage. auch Deinen Geburtstag. und ich denke, das ist eine gute Lösung. wenn die zwei in 15 Jahren größer sind und ich vielleicht mehr arbeiten kann, dann habe ich an diesem Tag auch wieder einen großen Strauß für Dich. und mich.

das, was ich durch Dein Leben gelernt habe, ist Teil von mir geblieben. das, was mir viel bedeutete, als Du hier warst, bewahre ich noch immer. ich muss nicht mehr oft weinen wegen Deines Todes. ich weine eher über alltägliches. aber ich habe die Erinnerungen an uns beide nie losgelassen. und ich zeige Deinen Brüdern, dass Du und mit Dir der Gedanke an Endlichkeit oder Sterblichkeit Teil des Schönen sind, was wir haben.

mein kleiner Prinz, Du hast hier eine Familie. eine Mama, die ganz viel Kram ins Internet tippt. einen Bruder, der schrecklich auf Einhörner abfährt. einen Bruder, der manchmal wie ein Ninja durch die Wohnung rollt. und ein wunderschönes Zuhause mit mürrischen Vermietern wie aus einem Kinderfilm. Deine Bilder hängen in unserem Schlafzimmer und manchmal türmen sich auf der Kommode davor Wäscheberge. und manchmal stehe ich abends im Badezimmer und kann nicht fassen, dass die Erzieher*innen im Kindergarten mir erzählen, meine Kinder könnten ganz toll Zähne putzen. manchmal komme ich zu spät ins Wohnzimmer und der Kleine ist mal wieder vom Sofa gesprungen und hat sich was angehauen. und manchmal laufen wir einen ganzen Tag im Schlafanzug rum, weil ich zu erschöpft bin, um irgendwas richtig zu machen.

„Mama, weißt Du eigentlich, ob es mir gut geht?“
-„geht es Dir gut, Großer?“
„yep.“

wir sind hier.

ich liebe Dich.

Deine Mama

6 Antworten auf „14

  1. Liebe Minusch, ich hab Deinen Blog schon länger abonniert aber offenbar noch nie gelesen. Weil immer die Zeit fehlt, so viel anderes zu tun ist, es grad nicht passt……. Aber ab heute wird sich das definitiv ändern. Du hast mich mit Deinem heutigen „Brief“ gerade mitten ins Herz getroffen. Ich wünsche Dir und Deinen Jungs von Herzen alles Liebe. PS: Danke, dass Du uns an Deiner Gedanken- und Gefühlswelt teilhaben lässt. PS2: Die restlichen Einträge werden jetzt wohl nachgelesen…. 🙂

  2. Liebe Minus!
    Bei einer guten Freundin hängt ein Kinderbild in der Wohnung. Gemalt von der damals vierjährigen Micky, die ihre Schwester Manu verloren hatte. Manu durfte nur wenige Wochen alt werden; und ist nun Schutzengel, sagt Micky.
    Ich schicke dir meine Umarmung

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