bemerkenswert

Weihnachtszeit.
mein Mojo klemmt. es war wohl zu viel. und wie immer, wenn es zu viel ist, sind die Bemerkungen dieselben. jeder kann sich denken, welche Bemerkungen ein Mensch hört, der alleine „erzieht“ und arbeitet und sich finanziell ständig sorgen muss.

ich habe mir ein Jahr dabei zugeschaut. Du auch. und die Quintessenz ist bemerkenswert:

nein, es liegt nicht daran, dass ich nicht liebenswert oder interessant wäre. es liegt auch nicht daran, dass ich Kinder habe und gut oder schlecht betreue. es liegt nicht daran, dass niemand diese Probleme kennen würde. nein. es gibt nicht genug Zeit.

darauf wäre ich alleine gar nicht gekommen. ohne jede Ironie. ich dachte, vielleicht zweifeln Menschen an mir und meinem „Unterhaltungswert“. vielleicht denken Menschen, dass es sie runter zieht, mit mir zu tun zu haben. vielleicht stören sich potenziell interessierte Partner*innen daran, dass ich zwei Söhne habe, die eben maßgeblich mein Leben formen (dürfen). ich dachte, wenn es keine Familienpaten für uns gibt, dann liegt das daran, das vielleicht unser „Fall“ nicht ganz einfach ist.

aber ich habe mich geirrt. es liegt an der Zeit.

offensichtlich habe ich mehr Zeit als andere, das wurde mir zumindest schon vorgeworfen. ich hätte mehr Zeit und würde mir daher mehr unnütze Gedanken machen. andere hätten (beispielsweise) noch ein reales Leben. oder eben Arbeit zu tun. oder Verpflichtungen.

habe ich eigentlich als einzige „Momo“ verstanden?

es tröstet mich, dass nicht die kritischen Stimmen, die mich als ich-bezogen und zu emotional bewerten, Recht haben. es liegt nur daran, dass andere keine Zeit für mich haben. weil wohl so vieles wichtiger ist. was ja logisch ist. wir schauen einander nicht ins Leben rein und selbstverständlich tun wir was wir können und kommen zu selten ins Wollen und nicht umsonst steigen die Zahlen der erschöpften Menschen. glaube ich zumindest. die Expert*innen sind sich ja nicht immer so sicher, was die Interpretation dieser Zahlen angeht.

aber wenn ich so auf die Jahreshoroskope und Lifestyle-Themen schaue, wenn ich mir allein die Titel der neu auf den Markt drängenden Magazine so anschaue, dann scheint es einen Bedarf nach Aktualisierung der work-life-balance zu geben. wobei das Wort work-life-balance nicht mehr aktuell ist. glaube ich. zumindest taucht es nicht mehr auf.

ach, es gibt so viele Erkenntnisse über Stress-Entspannungsreaktionen im Körper. wir alle wissen, wie Marketing funktioniert. wir machen Yoga und besinnen uns auf unsere Basics. wir informieren uns über vegane Kochrezepte und hypen Fastenkuren. wir lesen mit feuchten Augen Artikel über Sabbatical und blättern eine Seite weiter, wo wieder ein Vater erklärt, dass er ja gern in Elternzeit gegangen wäre, aber sein Arbeitgeber habe das ausgeschlossen. und dann öffnen die Suchenden von uns tinder und – Du hast ein Match! Bimbambino und Du steht aufeinander! – für einen Moment streckt sich die Zeit und wir lächeln und werden gesehen.

was geschieht mit uns, wenn niemand uns sieht? wenn wir der Uhr folgend in Räumen ein uns aus gehen? wenn wir immer dieselben Witze erzählen, weil wir jedem Menschen nur einmal begegnen? wenn wir unsere Geschichten immer wiederholen müssen?

Blicke können bedrückend sein. der Blick als Teil des Mediums Theater ist beispielsweise ein wunderbares Thema um der Magie des Augenblickes auf die Schliche zu kommen. der Blick als Scheinwerfer kann Deine ganze Arbeit als Pädagogin zerstören, weil er trotz der Präsenz die Realität komplett verzerrt. es braucht einen Wechsel von Fokus und Spiegelblick und Wegschauen.

was, wenn die Blicke nur streifen?

Du entwickelst in Dir Visionen von Selbstliebe und entdeckst Deine Schönheit und Deine Besonderheit und die Menschen um Dich nicken das ab – wir wissen ja, dass wir anderen Menschen Positives sagen sollen wegen des Karmas und weil Negatives viel mehr über uns aussagt und überhaupt selbsterfüllende Prophezeiung und Autosuggestion und guck mal: Gänseblümchen! – und niemand schaut mal mit Dir hin? was bedeutet das?

ich hatte mir letztes Jahr vorgenommen, offen zu sein. das war das, was ich mir für 2017 vorgenommen hatte. „ja“ zu sagen zu den Möglichkeiten, Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. ich dachte: wenn ich „ja“ sage, dann verändert sich etwas. dann bin ich vertrauensvoll und offen und ich verstecke mich nicht. dann ergeben sich Möglichkeiten! ich habe wirklich oft „ja“ gesagt. mit jedem „ja“ hatte ich eine Verabredung für etwas Schönes. und selbst, wenn es in die Hose ging, blieb etwas Schönes. und danach kam die Stille wie mit einem Hammerschlag: meine „jas“ blieben allein.
das musst Du als Mensch erstmal wegstecken.
was habe ich mich gefragt, „warum?“. ich habe auch die Menschen gefragt. ich habe ihnen mitgeteilt, dass mich das verletzt hat. damit habe ich einige Kontakte verloren, wurde blockiert, gelöscht, beschimpft und verleugnet.

ich frage mich, wie die Menschen das sehen. worin mein Angriff bestand. vielleicht war es eine Frage der Zeit. vielleicht war der Zeitpunkt auch jedes einzelne Mal falsch. oder hätte ich nicht verletzt sein dürfen, weil doch klar war, dass die Zeit nicht reichen kann für mehr eine Begegnung (pro Jahr)?

was soll ich sagen? ich lasse das stehen und wirken. im Dezember. wenn alle Welt sich in Vorbereitungen erschöpft. ich habe die Hälfte der Weihnachtspost gestern Abend erledigt. Post, für die ich wieder keine Antwort bekommen werde, von der mir aber auch weh tun würde, sie nicht zu verschicken. die andere Hälfte Wehnachtspost an Menschen, denen ich letztes Jahr nicht antworten konnte, werde ich heute oder nächste Woche bearbeiten. ich habe Glück. ich wurde krankgeschrieben. wegen Überlastung. jetzt haben die Vorwerfenden endlich Recht: ich habe mehr Zeit als sie um mir Gedanken zu machen. und um Lösungen zu finden. um weiter nach Menschen zu suchen, die Zeit haben. für uns. für mich. in diese Gruppe fallen wohl eher keine Therapeut*innen. naja. tempus fugit. und vielleicht lebe ich schon immer näher am See der Zeit als an der Quelle?

„Dann hinkte Kassiopeia davon und suchte sich einen stillen und dunklen Winkel. Sie zog ihren Kopf und ihre vier Glieder ein, und auf ihrem Rücken, für niemand mehr sichtbar als für den, der diese Geschichte gelesen hat, erschienen langsam die Buchstaben: ENDE“ (aus Momo von Michael Ende)

Liefs,
Minusch

2 Antworten auf „bemerkenswert

  1. NIEMALS werde ich dieses Buch vergessen. Mittlerweile ist es angegriffen, aber die Buchstaben erzählen mir immer noch ihre Geschichte. Bemerkenswerter fand ich allerdings „ Beppo „ den Straßenkehrer, der die Aufgabe hatte, die Stadt zu fegen. Er dachte nur in Straßenzügen und so seine Aufgabe nicht mehr sooooooo groß. Danke für deine Offenheit und Gedanken hier in deinem Blog. Es freut mich, dass es sie noch gibt, diese Menschen voller wertvoller Gedanken. LG @caligomemnon auf Twitter

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