umherändern

der Mond ist eine dünne Sichel am Morgenhimmel. neben ihm der Morgenstern. in das dunkle Blau zieht sich ein rosiger Schimmer und es wird kälter. das Jahr nähert sich behutsam dem Ende und wieder schließen sich viele Kreise.

in Kreisen zu denken fand ich früher fürchterlich. mein Leben sollte eine Linie haben. einen Anfang, ein Ende und vor allem eine Richtung. jetzt allerdings finde ich es schön, mir vorzustellen, dass ich Kreise vollende. das macht mehr Mut, finde ich. ich rackere mich dann nicht irgendeinem Ziel entgegen, das sich je nach Witterung ändert. ich vollende immer wieder etwas. ich fange etwas an und bringe es zu einem Ende. einatmen – ausatmen.

gerade schließt sich ein ganz großer Kreis. ein massives Stück Weg, auf dem ich viel verstehen musste. ich fühle mich tatsächlich so, als stünde ich an einer Stelle, an der ich bereits war. nur bin ich jetzt eben zum zweiten (oder dritten oder vierten Mal?) da. ich schreibe jetzt gerade darüber, weil ich eben vor 5 Minuten noch einen Beitrag über diese Gegend hier gesehen habe. der Beitrag endete mit der Geschichte der Burg Frankenstein, auf der ein Mensch gelebt haben soll, der mit Leichen experimentierte, und den die Bewohner der umliegenden Dörfer wegen dieser Experimente zu einem grandiosen Monster ausgeschmückt haben (Grüße an Mary Shelley). in besagtem Betrag formulierte ein Hobbyforscher die Essenz dieser Geschichte als eine Geschichte der Einsamkeit begleitet von der Frage: „wie erschaffen Menschen ihre Monster selbst?“.

gerade über Einsamkeit und das, was es mit Menschen macht, denke ich immer wieder nach. häufig recht fruchtlos. es gab eine Phase, da kam mir Einsamkeit attraktiv vor. vor allem als Kind wäre ich oft gern geflohen, weil ich das Gefühl hatte, nicht ich selber sein zu können bei anderen Menschen. heute fühle ich mich in Einsamkeit eher unwohl. mir ist völlig klar, dass ich Zeit alleine brauche. das merke ich besonders jetzt in den Ferien ganz deutlich. wenn die Tage einfach immer zu voll sind, bekomme ich schlechte Laune. in Gesellschaft anderer so weit loszulassen, dass sich meine Ruhe wieder herstellen kann, das schaffe ich (noch) nicht.
gleichzeitig brauche ich Gegenüber, um zu reden. wobei es nicht um das Reden als Selbstzweck geht sondern um Nähe, gegenseitiges Verstehen und das Weiterentwickeln von Gedanken.

es scheint ein Dilemma der heutigen Zeit zu sein, dass diese individuelle Balance nur schwer herzustellen ist. es liegt eben nicht nur daran, sich selbst spüren und verstehen zu können. es liegt an Rahmenbedingungen, Ressourcen und Netzwerken. es ist nicht nur eine Frage der Sensibilität für sich selbst, sondern eben auch eine Frage der eigenen Courage nach außen. wieviel Widerstand, wieviel Abkehr, wieviel Eigenbrödlerei, wieviel Monstrosität vertragen andere Menschen?
wieviel davon lassen wir zu?

unsere Kinder lernen früh das Wort „Rücksichtnahme“. ein zentraler Begriff des Miteinanders. wir sollen anderen Menschen ihren Abstand lassen und ihre Ruhe nicht stören und die Mittagszeit als Zeit der Pause ernst nehmen und Verständnis haben und still sein. das klingt wie eine Lösung für viele Probleme: wir nehmen Rücksicht aufeinander. ich bin so aufgewachsen, dass ich auf sehr vieles Rücksicht nehmen sollte und die Bedürfnisse der anderen ein zentraler Punkt in meinem Leben waren. so zentral, dass meine eigenen Bedürfnisse warten konnten. warten mussten. mit dieser Haltung habe ich es bis in einen Burnout geschafft. und selbst jetzt, etwa 10 Jahre später, bin ich mir noch nicht sicher, wie diese Balance herzustellen sein soll. wenn ich lerne, Rücksicht auf andere zu nehmen, kann ich gleichzeitig lernen, mich selbst wichtig zu nehmen? und wo liegt die Grenze?

diese Einsamkeit, mit der ich jetzt schon eine Weile kämpfe, ist das Ergebnis dessen, was ich ge-/erlebt habe. ich habe tatsächlich einige Menschen in ein egoistischeres Weltbild begleitet und blieb dann eben außen vor. ich begleite mich auch selbst in ein egoistischeres Weltbild und habe weniger Geduld mit Menschen, die für mein Gefühl mehr Stress produzieren als Ruhe. so lösen sich Cluster wieder auf und Raum entsteht. nur eben um den Preis, dass dafür Leerstellen bleiben.

ich denke heute, dass dieser Weg nicht schlecht ist. dass der Schmerz der Einsamkeit besser ist, als der Schmerz des Zusammenbruchs. dass die auf diese Art mögliche Langsamkeit mehr Raum für Heilung lässt als die Dichte sozialer Nähe. und gleichzeitig ist mir bewusst, dass ich Nähe ersehne, weil eben nicht alle Fragen der Vergangenheit ihre Antworten in mir selber finden und weil es schlicht keinen Ersatz für körperliche Nähe gibt.

das Blau des Himmels wird leichter. neben mir schaut ein Augenpaar ruhig in den Raum. mein kleiner Sohn hat inzwischen die Füße unter meine Decke gesteckt und schaut mir beim Tippen zu. wir lächeln uns an. ja, es gab schon Tage, da habe ich mir mehr Freiraum für mich gewünscht. heute ist kein solcher Tag. heute ist es ruhig. die Luft ist klar, ich werde Zeit für mich haben. ich werde Zeit mit den Kindern haben. wir werden aufeinander warten. und wir werden wieder gemeinsam ins Bett gehen. hier hängen Kastanien, Papiergeister und Herbstblätter. im Kühlschrank stehen Brownies. in einem Monat beenden wir gemeinsam unser erstes Jahr zu dritt. und einen Monat später werde ich 40. und dann liegt etwas Neues vor uns. wieder etwas Neues. ich bin gespannt, wer uns begleiten wird. und ich bin überzeugt davon, dass es schön ist, uns zu begleiten. auf jeden Fall werde ich weiterhin Menschen dazu einladen, es zu tun.

liefs,
Minusch

7 Antworten auf „umherändern

  1. Hallo Minusch, ich hoffe, es geht dir gut. Und ich hoffe, du kommst gut ohne Twitter zurecht 😉
    Viele Grüße
    Glenn aka nullenschubser

      1. Hmmm… Ich schlage vor, wir beginnen mit einem gemeinsamen Glühwein auf dem Darmstädter Weihnachtsmarkt

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