bitteres bitte

und da liegt dieses Lesezeichen in der Küche. grüner Karton, Fingerfarbe, laminiert mit einem grauen, verwuselten Bändel daran. das Geschenkpapier von dem Lesezeichen hat der Große sich geklaut. es sind Rosen darauf. sowas wie ein Glücksgarant für den Großen. aber eingepackt hatte es der Kleine.
„das mit den Blumen habe ich extra ausgesucht“
das in meinen Augen ist kein Schimmern mehr. das ist diese Lücke, durch die meine Kinder manchmal meine Traurigkeit sehen dürfen. diese Traurigkeit, die alles vertieft, was wir erleben. die jedes bißchen Schönheit zu einer Farbexplosion geraten lässt.

wenn ich dieses Jahr zurückscrolle, entdecke ich viele wunderschöne Bilder von uns dreien. wir haben so vieles erlebt. jetzt ist Zurückscrollzeit. vor uns liegt noch ein Konzert (für das ich noch klären muss, ob ich sie mitnehmen kann). vor uns liegen Halloween, Laternensinglieder, Zimtschnecken, Apfelkuchen, Plätzchen, kleine Geister, Kastanien, der Adventskalender, Goldzauber und Silberglitzer. vor uns liegen wöchentliche Diskussionen, ob wir zum Training gehen werden oder nicht. vor uns liegen Sehnsucht nach dem Wasser und die horrenden Preise des Jugendstilbades. vor uns liegen Erkältungen, Wut und Frust. Müdigkeit. dunkle Morgende, in denen wir die noch stille Straße hinauffahren zum Kindergarten. Taschenlampentage und Kuschelnächte. Kerzenschein. Tee. heißer Kakao mit aufgeschäumter Milch. Weihnachten zu dritt. die Zeit zwischen den Jahren. und dann mein 40ter Geburtstag. hoffentlich nicht zu dritt.

all das liegt auch schon hinter uns. Ende November haben wir das erste Jahr geschafft. das, wovor ich solche Angst hatte, ist eingetreten. schlimmer als gedacht. die, die ich dachte zu sein, bin ich nicht mehr. ich bin unerreichbar geworden. hart nach außen, um innen zart wie Nougat zu bleiben. ich hasse Nougat. aber diese Konsistenz ist wertvoll. das, was an den Fingern kleben bleibt, sichtbare Spuren hinterlässt und auf der Zunge zergeht. solche Momente sind selten, auch in dieser kleinen Familie, aber sie existieren noch und ich schütze sie so gut ich kann. die für außen nötige Verhärtung blockiere ich von innen.

wieviele Menschen haben meine Kinder dieses Jahr bewundert. viele auch mich. wir werden bewundert. wir sind wundervoll. wir sind schön.

aber wir werden nicht geliebt. wir lieben einander. es gibt niemanden, der oder die uns braucht. oder mit uns teilen möchte, was wir erleben oder er oder sie erlebt. wir drei merken das. wir arrangieren uns mit anderen Menschen und trauen uns vorsichtig in Freundschaften hinein. aus manchen Freundschaften schleichen wir leise wieder hinaus. wir bleiben nicht gern. das, was wir verloren haben, war zu wertvoll.
und ich meine zumindest für mich nicht diesen verlorenen Menschen. aber seine Position. die Nummer 4 hier. neben mir. um unsere beiden Kinder herum. wir haben die Stelle wegrationalisiert, nachdem wir alle drei gewartet haben, ob sich eine Alternative mit diesem Menschen ermöglichen lassen würde.

er hat alle Türen zugeschlagen. ohne Not. aber mit Kraft. er hat nichts dagelassen, was uns mit ihm verbindet. nichts außer Zeug, das er nicht braucht, unseren Papieren und dem Wissen, wie es ist, verraten zu werden.

ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, mit meinen Kindern darüber zu sprechen, dass er die Stadt verlassen hat und ich nicht weiß wohin. ich denke seit 3 Wochen darüber nach, wie ich es erklären kann. was ich sagen kann. welche Worte da helfen.

heute morgen kam der Kleine auf mich zu, nachdem ich ihn angezogen hatte. in der Hand sein Vatertagsgeschenk, das er extra aufgehoben hatte für den Tag, an dem er Papa wiedersieht. ein kleines schmales Päckchen. für Papa von k2. Rosenpapier. es lag die ganze Zeit wohl verwahrt in einer Kiste mit anderen Geschenken für den Papa. er streckte die Arme aus uns sagte deutlich: „Mama, das war ja ein Geschenk für den Papa. aber ich denke, Du solltest es besser haben.“

ja, mein Kind. dieses Lesezeichen kannst Du mir schenken. weil ich mich darüber freue. weil ich es bewahren werde. weil ich Dir dabei helfen kann, zu spüren, was Liebe heißt. weil ich Dich so sehr liebe, dass alle anderen daran verzweifeln werden. Du und Dein Bruder, ihr seid auf dieser Welt, weil ich Euch zu mir gewünscht habe. von ganzem Herzen. und wahrgewordene Wünsche werden von mir geehrt. für immer. ich liebe Euch. ich halte Euch. und ich werde Euch helfen zu fliegen, wenn ihr Sehnsucht nach den Wolken bekommt!

Liefs,
Minusch

12 Antworten auf „bitteres bitte

  1. Was für ein traurig schöner Text.
    Es ist so grausam, dass man seine Kinder vor manchen Enttäuschungen nicht schützen kann – vor allem vor dieser.
    Aber sie haben dich. Das ist sehr viel.

    1. ich kann es nicht verhindern. nur auffangen…und so sehr ich weiß, dass solche Momente auf alle zukommen, bin ich schon sehr bitter, dass ich en zwei Kindergartenkindern erklären muss, dass ihr Vater abgehauen ist, ohne auch nur Tschüss zu sagen.

  2. Traurig, aber dich so voller Stärke. Nr. 4 hat es sich verdammt leicht gemacht. Ich finde das unfassbar. Kann mit solchen Menschen nur schwer etwas anfangen. Und es tut mir leid, für seine Söhne. Halte durch. Ich wünsche Dir, dass es da irgendwann wen geben wird, für jeden einzelnen von Euch. Aber Gutes braucht seine Zeit. Ich drück Dich!

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