– 3 ich wollte ans Meer
die Menschen teilen sich in die, die in die Berge wollen, und die, die ans Meer wollen. ebenso teilen sie sich in die, die sich nach der Apokalypse hinter der Turnhalle treffen und die, die sich vorm Rathaus versammeln. aber um die gehts hier nicht. es geht um das Meer…die See…
als mein Sohn vor 13 Jahren starb, nahm mich eine Freundin mit in den Urlaub. genauer gesagt hüteten wir beide (Lyrikerinnen) das Haus einer anderen Lyrikerin in St. Peter-Ording für 10 Tage. wir fütterten die Katze und achteten auf die Balkonkissen und ließen uns verzaubern von der Schönheit dieses Lebens. wir naschten schokolierte Zwiebackkrümel, aßen zum Frühstück Toastbrot mit Chocomac und machten der Katze jeden Tag eine Dose Thunfisch auf. wir streiften durch die Salzwiesen und suchten die größtmögliche Tragik in Wort und Schrift. es regnete viel. und die Tage waren so wundervoll leer.
zurück zuhause fühlte ich mich, als würde ich mit einer Plastiktüte über dem Kopf leben. kein Wind. nichts. wie ein modriger Teich im Vergleich mit der Brandung an der Nordseeküste war hier die Luft. die Menschen sahen mich unfreundlich an, fand ich. und ich schleppte mich zurück in mein Leben als verwaiste Mutter.
seit dem war ich jedes Jahr wieder dort.
ich kannte schon vorher andere Küsten. die verspielte Klarheit des Wassers in einer türkischen Bucht, die Quallen vor Tunesien, die dichte Dünung vor Formenterra. ja, das Meer war immer toll. aber das lag nur am Wasser. an der Nordsee war es anders…
um in der Nordsee zu schwimmen brauchst Du den klaren Willen dies zu tun. Du musst Dich entscheiden, sonst tust Du es nicht. oder nur in dem Moment günstigster Kombination aus Gezeiten, Witterung und Gesundheitszustand. die Nordsee lässt Dich ganz schön blöd am Strand rumstehen mit Windgeschwindigkeiten um 30km/h und dem Wissen, dass es bei Wind nicht gesund ist, ins Schwimmbad zu gehen.
13 Jahre lang war ich jeden Sommer dort. im Regen. in Sonnenschein. in Stürmen. Kälte. Hitze. ich habe dem Wind entgegengehofft und unter den Regenwolken in der Brandung gestanden und tief in mir etwas gespürt, was ich nur dort fand: Stille.
…dieses Jahr fand ich noch mehr. ich fand das murmelnde Heranrollen der Flut. ich spürte das wärmende Leben im Wasser bei 17 Grad. ich sah die Stille in den Gesichtern älterer nackter Menschen in der Abendsonne. ich fand die Sehnsucht danach, ganz im Meer zu sein und mich auf diese Art mit etwas zu verbinden, was älter ist als ich. ich fand die Freiheit meiner Bewegung im Wind, in den Wellen ohne Badezeug. und ich fand das wohlige Gefühl von Sand auf meinem Rücken ohne scheuernde Stellen im Bikini.
in der Kälte ziehen sich meine Schultern zurück anstatt nach vorne zu fallen. in den Wellen reiße ich meine Arme nach oben und falle dem Wasser seitlich entgegen. und neben mir tun das andere ganz genauso. eine uralte Choreographie. es gibt keine Alternative. die Gesichter leuchten in einer Mischung aus Stolz und Freude. wir spüren dasselbe. das ist kein Sport. keine Kneippkur. kein Akt der Salutogenese. es ist reine Freude.
abends nach 20:00 noch an den Strand zu gehen, sich nackt auszuziehen und einfach den Wellen entgegenzugehen entspricht meine Idee von Freiheit. die Kinder buddeln Fallen für die Flut und meine Hände gleiten an meinen Beinen hinab in das kalte Wasser. an den Füßen spüre ich schon lange keine Temperaturunterschiede mehr. Muscheln unter den Füßen und Rippel im Sand. jeder Schritt voller Überzeugung auf dem sich selbst entziehenden Grund. dort, wo das Wasser nicht golden in der Sonne schimmert, ist es schwarz. undurchdringlich. weiter hinten eine überlaufene Sandbank, aber abgesehen von dem eigenen Wissen um das Gefälle des Strandes keine Sicherheit für den nächsten Schritt. nur Dein Wille zieht Dich dem goldenen Schimmer entgegen, der nur stetig zurückweicht. vom Strand hörst Du die Kinder die Tiefe ihrer Sandhöhlen feiern. neben Dir schippern Möwen über die Wellenkämme wie kleine Papierboote.
irgendwann kannst Du die Änderung der Gezeiten spüren. irgendwann meldet sich der innere Wächter. irgendwann weißt Du, dass Du gehst. das, was vorher als bewusste Entscheidung nötig war, schlägt in die Gegenrichtung: völlige Gedankenfreiheit im Handeln. der Schritt aus dem Wasser gibt Dir Deine vertraute Schwere wieder und jeder weitere Schritt bis zum Handtuch lässt das Salzwasser auf Deiner Haut trocknen.
die Wärme, wenn Du nach so einem Bad wieder in die Jacke und Deine Hose steigst. die sinkende Sonne. die Gewissheit der eigenen Sicherheit. die Gewissheit eines endenden Tages. einer Nacht. und einer Dämmerung. ohne Fragen. ohne Antworten. Zen.
nein, dieser Urlaub war kein Abenteuer. er war die Strecke meines inneren Zugvogels, der sich einmal im Jahr dorthin aufmacht um zu genesen von all der Hitze im inneren dieses Landes. so wie andere den Schnee riechen können, spüre ich mit geschlossenen Augen wo Norden ist.
liefs,
Minusch
Schööön! Wenn ich mich entscheiden muss ob Meer oder Berge, dann immer Meer. War dieses Jahr auch 2 Mal an der Nordsee (und die letzten Jahre auch je ein Mal). Nur zum Nacktbaden hat es noch nicht gereicht. Ist es so einsam abends in St Peter Ordingen oder war es FKK? War da noch nie, wollte aber immer mal hin.
einsam…na, allein waren wir nicht. aber unser Strandzugang lag tatsächlich auf Höhe des FKK-Strandes. 🙂
Hachja…<3
Könnte auch der Atlantik sein
Wie schön!
Schön, dass das spürbar ist ❤️