wenn ich mir so anschaue, was alles „normal“ ist, frage ich mich, warum wir das wollen sollten. ich sammel mal willkürlich:
- die Mutter bleibt bei den Kindern und der Vater arbeitet
- eine Familie besteht aus heterosexuellen Eltern und mindestens einem Kind
- Sex ohne Liebe ist nicht schön
- Frauen gucken keine Pornos
- Jungs, die Mädchen mit kurzen Röcken nerven, können nicht anders
- Jungs tragen dunkle und kräftige Farben und Mädchen lieben Rosa
- Verheiratete Paare haben wenig bis keinen Sex
- Frauen wollen auch kaum noch Sex, wenn sie erstmal Mama sind
- Eifersucht auf gegengeschlechtliche Freunde der Partner ist verständlich
- Ringe am Finger bezeugen den Besitzstand der Partner
- Kinder brauchen enge Grenzen und sollten nicht verwöhnt werden
- wir können nicht alles haben
- Alleinerziehende sind unglücklich
- jeder Mensch braucht einen Partner
- wenn die Kinder ihre Zimmer nicht aufräumen, sind sie selber schuld, wenn es blöd aussieht
- das zuckerfreie Frühstück ist zuckerfrei
- Menschen, die um Hilfe bitten, sind egoistisch
- Frauen wollen nur Sex mit Menschen, die sie lieben
- Sex ist nicht wichtig
- niemand kann machen, was er/sie will
- gegenderte Sprache stört den Lesefluss
- das Privatleben geht niemanden was an
- tbc…
ich hänge schon lange in dieser Schleife „was ist denn bitte normal?“
ich weiß nicht, ob es Euch auffällt, aber ich schreibe auf diesem Blog gegendert. ich habe 2007 meine Diplomarbeit im generischen Femininum geschrieben und ich streiche inzwischen das Wörtchen „man“ auch in der gesprochenen Sprache aus meinem Vokabular. ich ersetze es durch Paraphrasierungen. und es funktioniert ganz gut. ich behaupte mal, dass ihr Mitlesenden meine gegenderte Sprache nur daran erkennt, dass ich die männliche und weibliche Form mit dem Sternchen zusammenfasse (Leser*innen). aber es geht viel weiter. und es verändert etwas.
der Verzicht auf Satzkonstruktionen mit dem Wort „man“ führt dazu, dass ich mir Gedanken darüber machen muss, wer denn diese Aussage trifft: ich, wir oder eine (fiktive) Gruppe. diese Frage nach dem „wer“ führt mich immer auch zu mir selbst zurück und schaltet damit eine automatische Feedback-Schleife. ich kommuniziere damit also klar und deutlich meine Perspektive auf mich oder andere und treffe keine allgemeingültigen Annahmen mehr. mich macht das sehr zufrieden, muss ich sagen. ich mag diese Perspektive.
2007 war ich mit meinem generischen Femininum (das entsetzlich klingt und in mir die Frage aufwirft, warum wir uns an das Gegenteil überhaupt gewöhnen konnten) noch ziemlich alleine. im analogen Alltag bin ich es auch nach wie vor. aber hier im digitalen Bestandteil meines Alltags fühle ich mich als loser Teil einer Veränderung, die den Gedankengang dahinter anpeilt. eventuell ziehen wir alle unterschiedliche Schlüsse. aber wir denken darüber nach und erarbeiten eine Veränderung.
diese willkürliche Aufzählung oben zeigt auch Beispiele, die schon im Wandel sind. beispielsweise die Rolle des Vaters in der Erziehung. ich nehme da einen schleichenden Wandel wahr. oder die Zusammensetzung von Familien. mich irritieren gleichgeschlechtliche Eltern nicht. ich würde sie lieber beglückwünschen zu dem sicher nicht leichten Weg, den sie gegangen sind, um als Eltern leben zu können.
und was bei einzelnen Normen als Wandel möglich ist, das ist bei allen möglich. nicht sofort. und sicher nicht schnell. aber nicht unmöglich!
es ist eine Frage dessen, was wir richtig finden. eine Frage dessen, was wir können und wollen. es ist keine Frage einer elitären Herrscher*innen-Klasse sondern eine Frage unserer Realität. wenn wir eine Veränderung wollen, dann sind wir frei uns anders zu verhalten. und ich spüre den Rausch, wenn so eine Erkenntnis im Kopf explodiert und wie kraftvoll diese Momente sind, wenn ich registriere, ich bin damit nicht alleine…das trägt sehr weit…zumindest bis zur nächsten Konfrontation.
und da sind wir am Kern der Leidfäden, die sich durch unser Leben ziehen: welchen Wert geben wir der Gruppe, zu der wir gehören? was passiert, wenn wir diese Gruppe enttäuschen oder verlassen? sind meine eigenen Ideale mehr Wert als die Normen meiner Gruppe? welches Mitspracherecht habe ich bei der Bewertung von Verhalten? wie bewältige ich diese Konfrontation?
aktuell gehöre ich eigentlich nur einer Gruppe fest an: meinem Team bei der Arbeit. ansonsten gucke ich in verschiedene Gruppen rein (Eltern(analog) , Theater (analog) oder Twitter (digital und analog)), bleibe dort aber nicht als fixer Bestandteil. ich habe keine (erweiterte) Familie mehr und auch keinerlei nennenswerten Kontakt zu ihnen. ich lebe mit meiner Sicht auf die Welt ein stück weit isoliert. meine Angst vor diesem Zustand ist sicherlich gut vorstellbar, gerade, wenn der Wunsch nach Nähe, wie bei mir, so sehr ausgeprägt ist. und doch habe ich mich dagegen entschieden, zu anderen Gruppen zu gehören.
wenn ich mir anschaue, wieviel Macht Außenstehende durch Gruppenprozesse auf mein Leben haben können, wird mir nämlich schlecht. nehmen wir die Kontrollmechanismen einer Kleinstadt zum Beispiel: klar finde ich es super, in meinem Kiez die Verkäufer*innen mit Vornamen ansprechen zu können. ich mag die Buchhändlerin, den Bäcker, ich mag die Frau an der Kasse vom Rewe, den Schneider, die Apotheker*innen…aber ich würde nicht wollen, dass denen jemand etwas davon erzählt, was bei mir zuhause los ist. ich kenne das aus der Kleinstadt. ich kenne den Tratsch, die Bewertungen. die Gertrud hat von der Hilde gehört, dass der Karl die Heidi verlassen hat und jetzt mit der Tochter von der Ursel vögelt. öhm. ist das interessant? also tatsächlich interessant? sagt das irgendwas aus über die Beteiligten? das einzige, was es mir sagt, ist, dass da Leute gern über pikante Details sprechen (wahrscheinlich, weil es so schön kribbelig im Bauch ist), dass sie das aber lieber so tun, dass nicht sie selbst im Fokus stehen, sondern eben die anderen. ja, Lästern ist ein anerkanntes Instrument, eine Gruppe zusammenzuhalten. aber versucht mal, in einer lästernden Gruppe nicht mitzumachen. die dann wirkenden Mechanismen bringen Euch unweigerlich erst in die Außenseiterposition und dann ins völlige Abseits. dazu reicht schon die Haltung: „Rede nur so über andere, dass Du Dir sicher sein kannst, sie nicht zur verletzen, wenn sie es mitkriegen“ << ein toller Leitsatz aus der Pädagogik um mit Mobbing-Klassen zu arbeiten. nur: er funktioniert nicht, wenn Tante Birte und Onkel Bernd jeden Sonntag beim Kaffe auspacken, was die Nachbarn wieder für Geld ausgegeben haben, obwohl sie schon so überschuldet sind mit dem Haus und dem Auto und dem Urlaub auf den Malediven.
zu einer Gruppe zu gehören, egal ob Familie oder Freundeskreis oder Nachbarschaft, fordert seinen Tribut in Form von Kontrolle und Bewertung. die superduper-glücklich Gruppe ist ausgesprochen unwahrscheinlich. im digitalen Leben findet sie einen ganz guten Boden, weil wir uns einfach gegenseitig kaum überwachen können und dementsprechend Behauptungen aufstellen können, wie es uns gefällt. digital können wir relativ einfach die Fiktion von Glück produzieren und lange halten. ich kann mir sogar vorstellen, dass auf dieser Grundlage grundsätzlich ein Transfer ins analoge Leben möglich ist. ich bin mir noch nicht ganz im Klaren, ob mein Gefühl daher rührt, dass die Zusammengehörigkeitsparameter digital anders überprüfbar sind oder ob sich digital ohnehin mehr Außenseiterpersönlichkeiten tummeln. aber das wird sich sicher noch herausstellen. und genauso wenig weiß ich, was da dann eigentlich transferiert werden würde. genauso wird sich herausstellen, wie lange das funktioniert und woran es liegt, wenn es schief geht oder eben gelingt.
schwierig finde ich die Geburten der Träume eines besseren Lebens mit den Menschen, die wir online kennengelernt haben, mit denen alles so einfach erscheint. mit denen wir so gut reden können. die immer da sind. auf die wir uns verlassen können. ich träum diese Träume auch. sie tun mir gut und zeigen eine fiktive Exitstrategie auf. gleichzeitig ist mir aber leider auch klar, dass wir alle uns nur an der Realität messen können und nicht an unserem Traumpotenzial. und übertragen in die Realität braucht es schon sehr sehr viel Mut, das, was wir online leben, auch zuhause und zur Not alleine durchzuziehen.
ich weiß das auch aus Erfahrung. ich bin Außenseiterin. immer gewesen. und das die längste Zeit freiwillig. ich bewerte meine Vorstellung von einem schönen Leben als wertvoller als das, was die Gesellschaft mir an Konventionen bietet. diese Haltung führt zu Reibungsflächen und Verletzungen. mein Verständnis für Eifersucht beispielsweise ist nicht existent, obwohl es alle anderen zu verstehen scheinen. ich suche nicht die work-life-balance sondern ausreichend Zeit für meine Kinder und auch für mich. mir geht es alleine mit meinen Kindern besser als mit einem Partner. ich finde Sex ohne Liebe schon immer toll und ich habe nichts gegen wechselnde Partner*innen. ich argumentiere feministisch. ich spreche über mein Gehalt. und wenn ich mich bei dem Satz "Du kannst hier nicht machen, was Du willst" gegenüber einem meiner Kinder ertappe, zieh ich mich innerlich am Ohr und frage mich: warum denn bitte nicht?
warum sollen wir nicht machen können, was wir wollen? was passiert, wenn wir es tun? ich meine nicht, dass wir alle nur noch schwänzen und vögeln sollen (hihi, muss noch wer über die Wortkombination lachen? ^^). ich setze mal voraus, dass wir uns Berufe ausgesucht haben, die wir mögen (also ich mag meinen und ich gehe gern zur Arbeit) und ich setze voraus, dass wir uns gern um unsere Kinder kümmern. aber was ist darüber hinaus mit unseren Wünschen?
meine Jungs müssen gerade durch eine harte Zeit. ich ändere zuhause strukturell vieles, weil ich es alleine ohne Partner eben nicht mehr so machen kann wie vorher. das bedeutet, dass die Kinder insgesamt weniger Mama-Zeit haben, weil ich in dieser gemeinsamen Zeit eben auch den Haushalt erledige. und das bedeutet, dass ich manchmal Gespräche über Twitter oder WhatsApp führe, für die ich einfach beim Fernsehen oder kochen immer wieder aufs Handy sehe. dem gegenüber stehen freie Zeiten, in denen ich genau das nicht tue (aufs Handy gucken) und vor allem entsteht so eine Mama, die sich um ihren Kram genauso gut kümmern kann wie um den Familienkram. ich tue, was ich will in Balance mit dem was wir wollen und dem, was andere wollen. ein schöner Zustand.
und wenn ich eine Freundschaft will, dann ist das schön. wenn ich einen Menschen liebe, dann ist das schön auch ohne Beziehung. wenn ich die Aufmerksamkeit anderer brauche, dann frage ich vorsichtig nach oder bitte um Hilfe. es geht mir gut damit. solange ich keine Gruppe damit berühre, die meine Freiheit als Egoismus auslegt und meine offene Liebe als scheinheilig. da trifft dann meine Sicht auf die Welt auf eine in meinen Augen nicht mehr aktuelle aber sehr wirksame Perspektive und verletzt mich durch das Misstrauen, das nur entstehen kann, wenn eben nicht alle machen, was sie wollen.
klar bin ich ein Dorn im Auge der Menschen, die sich unterordnen. das versteh ich. mich hat auch genervt, die Freiheit der anderen zu sehen und nicht zu spüren. mein Weg dort raus war, mir meiner Ansprüche an dieses Leben bewusst zu werden und mir deutlich zu machen, dass ich zumindest zu der Gruppe Gesellschaft dazuzähle und so die Möglichkeit und die Pflicht habe, etwas einzufordern, was in meinen Augen gesünder ist als das, was als normal gilt.
Normalität ist keine Wahrheit sondern eine Festlegung. eine Verabredung. sie darf und muss sich wandeln, damit eine Gesellschaft lebendig ist. und der Wandel ist grundsätzlich keine Bedrohung (es sei denn, er droht Vergangenes zu wiederholen) sondern eine Chance. selbst wenn wir dafür an anderer Stelle auf etwas verzichten müssen, lohnt es sich, das Neue zumindest in Betracht zu ziehen. Freiheit kann richtig scheiße sein, wenn Du sie alleine hast. aber sie hat die Kraft der Anziehung und sie ist wertvoll. das wussten schon viele vor uns.
mit all meiner Angst vor Einsamkeit bin ich lieber frei als Teil einer Gruppe, die Aspekte meiner Weltsicht kategorisch ausschließt.
Liefs,
Minusch
„Normalität ist keine Wahrheit sondern eine Festlegung.“ Ja! Es ist ein gesellschaftliches (Hilfs-)Konstrukt, dem sich jede*r unterwerfen kann oder halt nicht. Wenn ich es nicht tue, muss ich das bewusst tun. Mit der Masse mitlaufen ist einfach.
Meine Erfahrung: Je selbstverständlicher ich meine vermeintliche Abweichung von der Normalität lebe, desto weniger wird es hinterfragt. Ich bin halt so, wie ich bin.
seh ich auch so. wobei Gruppenprozesse auch trotz Selbstsicherheit einen enormen Eingriff verursachen können.
Konfrontation/Reibung gehört dazu.
Danke. Von einem der auch nie einer Gruppe angehören wollte. Und der seine eigenen Gedanken hat und haben musste um er selbst zu sein.
das sind so wertvolle Momente: der Schritt gegen die Angst in die Einsamkeit und dann der Blick, in dem Du die anderen erkennst.
Ich kann einige Punkte in deiner anfänglichen Aufzählung nicht bestätigen bzw sie stellen sich in meiner Realität anderen es Dar. Entweder ist mein persönlicher Mikrokosmos nicht ,,normal“ oder einfach anders als deiner.
Ich gehöre mehreren Gruppen an und fühle mich dabei wohl! Vielleicht verliert aber auch der mögliche Druck einer einzelnen Gruppe an Kraft, wenn es alternative Gruppen gibt!?
Danke.
vielleicht ist es auch einfach so, dass wir unterschiedlich sind und beides gleichzeitig wahr sein kann. vielleicht stören Dich die Gruppenzugehörigkeitskosten auch einfach nicht. ich schreibe ja nur aus meinem Kopf heraus. und dass ich ab und zu ein Alien bin (*hust*), weiß ich ja schon 🙂
Minusch