Brauchen wir den Feminismus noch?

 

…oder kann das weg?

ihr kennt mich inzwischen. ich schrei bei Feminismus  immer sofort „ja“! aber warum? und woher kommt die Frage?

der Feminismus hat für mich keine Antwort auf Sexualität und Freiheit (echt mal: ich finde, er ist in dem Punkt echt schwach auf der Brust). er ist auch keine Partei. der Feminismus ist ein Paradigma des Überganges. und er muss hart sein, weil kognitive Änderungen sich nicht schleichend etablieren lassen. erst recht entgegen der Energie eines Patriarchats, das alle strukturellen Vorteile auf seiner Seite hat.

ich bin keine Große Freundin der Systemik. ich sehe aber in ihrer Grundannahme, dass Systeme sich zu aller erst selbst erhalten (Homöostase) eine tiefe Wahrheit, um die wir nicht drumrum kommen. spannend wird es, wenn Veränderung stattfindet und ein System, das so komplex ist, wie unsere Gesellschaft, darauf reagieren muss. aktuell scheinen sich viele feministischen Strömungen zu widersprechen, was zu einer seltsamen Streitkultur und einem empfindlichen Verlust von Solidarität führt (interessant, oder?). die weiblichen wie die männlichen Rollenbilder verschärfen sich gesellschaftlich zu unfassbar lächerlichen Zerrbildern. in jeder Blickrichtung kollabieren Menschen. sie zwingen sich in Lebensentwürfe, die entweder scheitern müssen oder den Menschen zu einem Rädchen degenerieren. Ehen scheitern, Männer verlassen nach 25 Jahre Ehe die Familien für neue Abenteuer. Frauen giften sich an, weil sie unterschiedliche Ansichten über Ernährung haben. wir blättern unsere Lebensentwürfe auf, machen uns angreifbar und werden dafür angegriffen. und in den Social Media Kanälen zuckt keiner mehr mit der Wimper, wenn wieder ein organisierter Shitstorm losbricht. wir trompeten das Wort Solidarität in den Sturm und das Echo ist meistens „ja, klar, aber nicht mit Dir, Du Trötnase!“. gleichzeitig solidarisieren sich an allen Ecken und Enden Menschen mit anderen völlig fremden Gruppen und genießen diesen Zusammenhalt und das Gefühl, endlich mal (!) was Gutes zu tun. völlig wurscht, ob sie mit ihrem Transparent gerade vielleicht aus Versehen jemanden umnieten, der oder die als Betroffene*r ganz andere Ideen von Gerechtigkeit hat als die Transparentträger*innen.

das System reagiert.

Ängste wuchern. Wut wuchert. die Realität verzerrt sich. dabei ist hier ja faktisch in den letzten Jahren nicht so viel passiert. Sehnsucht steuert uns fern. Gefühle drängen hoch.

ich behaupte, dass es sich lohnt, diesen Kontext zumindest in Betracht zu ziehen. durch die vernetzte Kommunikation geraten alle Informationen schneller an die Adressat*innen. auch Aufklärung beschleunigt sich (was auch ein Problem des Feminismus ist, weil sich dadurch diese vielen Strömungen aufgetan haben, ohne im Zusammenhang durchdiskutiert und eingeordnet worden zu sein). alles geht schneller. das System reagiert schneller und stärker.

als ich vor 12 Jahren in dem Seminar zu feministischer Ethik saß, haben wir aus den Texten extrahiert, dass das Konzept der Gerechtigkeit, das dem Feminismus zu Grunde liegt utopisch bleiben wird. Gerechtigkeit kann es nicht geben. Lediglich die Annäherung daran, in dem denjenigen eine Stimme gegeben wird, denen etwas fehlt. wenn ich mich recht erinnere, gab es auch in der angewandten Ethik kein Gerechtigkeitskonzept, das praktisch umsetzbar wäre. aber: als Annäherung und Utopie bleiben diese Konstrukte notwendig. radikal und notwendig. und vor allem unabhängig von der historischen Dimension. unabhängig von der Dimension, die über ein paar 1000 Jahre ein Machtgefälle erhalten hat, das keinerlei Begründung hat.

wir brauchen den Feminismus, um uns einzunorden. wir brauchen den Feminismus, um die Richtung beizubehalten. wir brauchen ihn, um nicht die Kosmetikindustrie verantwortlich zu machen (sorry, Andy), sondern um immer wieder das Ganze in Angriff zu nehmen. sicher nicht auf einmal, aber an den Fronten, die wir erreichen (die Kriegsrhetorik ist an dieser Stelle bewusst gewählt).

nicht Heidi Klum ist schuld an der Magersucht, der Mädchen, sondern ein irrationales Schönheitsideal und die Tatsache, dass Menschen dafür, schön zu sein, besser bezahlt werden als dafür, Kinder zu betreuen. nicht Tinder ist schuld an der Pornographisierung unserer Sexualität sondern eine Beziehungskultur, die in unser Sexualleben eingreift, in dem sie Konstellationen oder Praktiken verurteilt. marode Beziehungsstrukturen zeigen nicht das Versagen des einzelnen sondern die Empfindlichkeit der Menschen für Manipulation durch vorgegebene Wünsche.

so wie ich Feminismus lese, benutzt er den Individualismus um daraus eine erste Linie zu konzentrieren, die es möglich macht, die Politik anzugreifen. es geht nie um Perfektion. es geht um Veränderung. um eine höhere Wahrscheinlichkeit von Gerechtigkeit und das, was danach kommt. die Auswirkungen der Veränderung auf die Menschen.

und es geht in meinen Augen auch nicht darum, sich über andere zu stellen. es geht um Anerkennung von Lebensentwürfen und um Menschlichkeit. möglich, dass hier meine Ausbildung reinfeiert. ich trenne meine Lebensbereiche nicht voneinander.

das bedeutet auch, dass der einzige tatsächliche Machtverlust für Männer dort stattfindet, wo bisher kein geschlechtsspezifischer Ausgleich möglich war. ja, wenn Du 80% hast und ich 20%, dann fühlen sich für Dich 50% an wie 30% Verlust. das erkenne ich an. die Wut ist berechtigt. nur ist mein Anspruch genauso berechtigt. und so wie ich über meine Wut hinweg komme, kommst Du über Deine hinweg.

abschließend behaupte ich, dass der Feminismus das Instrument der Revolution ist, weil er Wurzeln angreift. und er ist noch nicht da, wo er sein müsste, um obsolet zu werden. die Spitzen mögen zumindest in Deutschland ein wenig runder sein, aber das Gefühl, als Frau ohne Machtposition frei entscheiden zu dürfen, habe ich noch nicht (Stichwort: Mutterschaft). und jetzt beginnt das, wo wir selbstreflexiv denken müssen, um weiter zu kommen. aufmerksam für uns und andere. voller Respekt für Gefühle ebenso für Sehnsüchte und Abgründe. wir müssen uns jetzt fragen, wie tief die Annahmen greifen, die wir der Realität voraussetzen. und wir brauchen den Mut, Konventionen als solche zu benennen und von ihnen abzuweichen.

solltet ihr noch nicht wissen, was ihr am 8.3.2017 machen werdet, solltet ihr nicht streiken wollen und keinen Pussy-Hat tragen, dann tragt was Rotes und vermeidet den Konsum von egal was. gebt kein Geld aus. einen Tag lang (außer in InhaberINNEN geführten Geschäften…aber wieviele kennt ihr?). dieser Tag gehört uns Frauen. er gehört der Hälfte der Weltbevölkerung, die weder die Hälfte der Macht noch die Hälfte des Vermögens hat. er gehört den Mädchen, die im Schwimmunterricht mit ihrer Frisur angesprochen werden und den jungen Frauen, die sich im Sommer nicht ins Schwimmbad trauen, weil sie sich zu fett finden.

wenn wir uns einig darüber sind, dass wir andere so behandeln wollen, wir wir behandelt werden wollen (jaja, Kant ist auch nicht der beste Vorreiter), dann haben wir eine Chance, an diesem Tag ein Zeichen zu setzen. ein Zeichen für unseren Anspruch und für den Anspruch all derer, die ebenso wenig und noch weniger von unserem globalen Reichtum profitieren.

„solidarity is our weapon“

 

Liefs,

Minusch

 

 

 

2 Antworten auf „Brauchen wir den Feminismus noch?

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