mein Gefühl, nicht-allein-zu-sein hält an. ich ziehe mir morgens mein Leben über den Kopf und es passt. die Erkältung fällt nicht ins Gewicht. die Arbeitssituation ist stabil. und ich werde besser darin, die Freiheit zu feiern.
ich habe das Kompliment bekommen, ich sei trotz all der Scheiße liebenswert geblieben. ich hätte ja auch bitter werden können. und ich denke sehr viel darüber nach. Bitterkeit. ich mag schon den Geschmack nicht. Chicorée geht mit etwa einem Blatt und dem 5fachen Gewicht an Frischkäse. aber ich mag keinen Kaffee, keine Grapefruit, keine Pomelo. ich mag es nicht. es wäre jetzt ein bißchen weit gegriffen, wenn ich mir daraus eine Widerstandsfähigkeit gegen emotionale Bitterkeit konstruieren wollte, und doch: es passt seltsam charmant ins Bild.
in meinen einsamsten Momenten lag immer auch das Potenzial zur Abkehr. Selbstmord war lange eine denkbare exit-Strategie. gerade nach Kilians Tod war es eine Art Tor am Horizont. eine letzte denkbare Möglichkeit, endlich aus all der Schwere zu entkommen. mich kaum spüren zu können, allein zu sein, immer wieder mit dem Boden zu zerschmelzen und dabei zu spüren, dass es wirklich niemanden interessiert. ich denke, in der Situation fragt sich jeder danach, was er/sie zur Hölle hier eigentlich noch macht.
auch in der Pubertät spürte ich eine irrsinnige Schwere. zu wenig Zuspruch, wenig Aufmerksamkeit für das Innenleben und Erfolge nur außerhalb des eigenen Zuhauses aber wie durch eine unsichtbare Membran von meinem Leben diesseits der Haustür getrennt. was wäre die Alternative gewesen?
als ich anfing, mich auf diese Trennung vorzubereiten (ja, ich habe mich darauf vorbereitet), war meine größte Angst, dass der Alltag und emotionale Belastung gepaart mit der plötzlichen Einsamkeit mich dorthin zurückbringen. vielleicht hat es deswegen auch so lange gedauert. hätte ich diese Angst nicht so stark gespürt, wäre ich früher gegangen. ich hatte Angst davor, depressiv zu werden und dies dann mit den Kindern alleine wieder hinkriegen zu müssen. meine Erfahrung war ja: in den größten Krisen stehst Du allein da. das war in meinem bisherigen Leben auch so. ich war immer gebunden an meine Herkunftsfamilie und deren Regeln. selbst wenn ich mich so gut ich konnte gelöst hatte, blieben die dort gelernten Bewertungen Teil meines Bewusstseins. ich habe viele Ausbrüche gewagt. mich oft getraut, meinem Instinkt zu folgen, aber es führte nie zu Glück. ich schloß daraus, dass mein Instinkt nicht gut sei…
als ich anfing zu bloggen, tat ich das aus Wut und Einsamkeit. ich wollte auch meine Gedanken raushauen. ich wollte sie mitteilen und teilen und darüber reden/schreiben/ansprechbar sein und ich wollte die Wahrheit schreiben. nicht das Gefilterte. nicht den happy-go-lucky-Teil. durch meine Ausbildung weiß ich schon lange, dass es die Maggie-Suppen-Familie nicht gibt. genauso wenig wie die Milchschnitten-Mama oder den Fußball-Waschmittel-kriegt-Grasflecken-raus-Papa.
nach etwa 2,5 Jahren kam die Kritik meiner Familie. also, naja, Kritik. mein Bruder schrieb zwei Kommentare, die ich nicht freischaltete und meine Vater eine sms mit dem diffusen Inhalt „Das Internet vergisst nichts“. das wars dann eigentlich. aber das änderte alles, denn: jetzt bin ich frei.
ich habe schon lange gedacht, dass ich mich irgendwie selbst einsperre und mit angezogener Handbremse unterwegs bin. ich habe das vor allem dann gemerkt, wenn ich glücklich war und plötzlich so ein dumpfes Gefühl im Bauch auftauchte. als wäre ich nicht klar genug, zu sehen, was ich tu. und tatsächlich hat die letzten 5 Jahre auch der Vater meiner Kinder diese Gedanken bestärkt: das, was ich brauche, um glücklich zu sein, entspricht weder einer Erwachsenen noch einer Mutter. ich soll mich über Blumen und Handtaschen und Design-Stühle freuen. das machen Erwachsene so.
tatsächlich bin ich so aber nie gewesen. ich liebe beispielsweise Sperrmüllstühle. ich hatte früher eine regelrechte Sammlung. und zwar nicht die unerkannten Wertobjekte. ganz stinknormale Stühle. mehrfach angestrichen, schief bezogen, durchgesessen. ich liebe sie alle, die kaputten zerschrammten mitgenommenen Geschosse, die keiner haben will. ich könnte Ausstellungen mit zersessenen Stühlen füllen, wenn ich die Zeit und den Raum hätte, sie aufzuheben. Stühle sind so wundervolle Möbelstücke und sie werden dauernd irgendwo ausrangiert…
ich liebe Musik. wenn ich alleine bin, dudelt immer irgendwas. das geht so weit, dass meine Kinder heute mit Ohrenschützern ihr Müsli essen wollten. aber ich kann die Musik auch nicht ausstellen. mein Musiküberblick reicht von den 20ern bis etwa ins Jahr 2000. ab da wird es langsam uninteressant für mich. sicher ist das verbunden mit Studentenzeiten und Teenyzeiten und meinen gnadenlosen Träumereien einmal bei George Michaels Last-Christmas-Schneeballschlacht dabei zu sein. aber das ändert nichts. wenn ich morgens durch die Schrebergärten radle und „What do you want from me“ gröle, dann fühle ich mich lebendiger als sonst. wenn ich durch den Herrngarten fahre und vor mich hin summe „Nobody can deny that sorrow needs its rightful place“, dann bin ich in mir ganz ruhig. mit „my sign is vital – my hands are cold“ bewege ich mich durch die Innenstadt wie eine Außerirdische. so herrlich kribbelig, lebendig, betörend.
und dann die Menschen…ich hab so schrecklich gern Besuch. ich genieße das kleine Chaos, das dann entsteht. ich genieße das Lachen, die blöden Witze. ich liebe Diskussionen. und im Hintergrund verstärkt Musik die Atmosphäre („es tut mir leid Pocahontas, ich hoffe, Du weißt das…“). der Abend verläuft, die Sätze werden leiser. und dann die Zeit nachdem die Gäste gegangen sind. die Zeit, die so schön zu teilen ist. Gläser stehen herum, Stühle stehen kreuz und quer, die Musik ist ganz leise…der Raum riecht nach Fülle.
Tanzen, Improvisieren, Lachen, Provozieren, Singen…eine Anlaufstelle sein und ein sicherer Raum. Menschen zu kennen, die das mit mir teilen wollen. Menschen besuchen zu können. Spontan entscheiden. nicht der Uhr hinterherrennen. und zu Mittag Reste der Nacht…
ja, ich habe hier einiges zu regeln, was nicht schön ist. aber ich bin mit meinen 39 Jahren offensichtlich in der Lage, absolut alles in meinem Leben richtig einzuschätzen. also: alles außer anderen Menschen, die sich meinem Kosmos entzogen haben. aber die dürfen auch weiterhin Steine schmeißen, denn das andere ist mächtiger.
ja, aufgrund meiner Art zu kommunizieren erleben meine Kinder eine Mutter, die viel auf ihr Handy starrt. und dieses aufs-Handy-starren macht mich nicht 100% happy, aber es bringt mich in die Nähe dessen, wovon ich träume. es stellt die Weichen. mein Getippe auf dem Laptop bringt mich in Eure Nähe und ermöglicht mir passiv wie aktiv Zuneigung. Rückmeldungen, Kritik, Fragen, Auseinandersetzungen, Anteilnahme, Wissen um politische Vorkommnisse. es füllt viel von dem was, wenn es leer wäre, viel von mir zehren würde. es schließt das Gefühl der Einsamkeit aus.
ich bin viel mehr glücklich als unglücklich mit der Situation, weil ich weiß, dass es Euch gibt. und meine Kinder haben eine Mama, die viel mehr glücklich als unglücklich ist. und selbst wenn mir dann wieder ein Steinwerfer reingrätscht, fange ich mich mit Eurer Hilfe wieder auf. per DM, per Telefon, per Mail, per Post. und auch wenn das so klingt, als würde ich mich an etwas anderes klammern: ich mache die Auffangarbeit schon selber, denn das kann mir niemand abnehmen. aber: der 24/7-Ansprache-Service meiner Twitter-Timeline ist einfach so dermaßen viel effizienter und direkter als die Telefonseelsorge! ich wäre bescheuert, würde ich darauf verzichten!
ich kann mir erlauben, liebenswert zu sein. und edgy. und laut. und präsent. denn ich bin nicht allein.
und der nächste Schritt wird sein, zu analysieren, wie sowas übertragbar ist. und wenn ich da eine Idee habe, schreibe ich sie auf. und wenn mir nochmal jemand sagt: schreib doch ein Buch! – dann hab ich zumindest ein Thema: ein Leitfaden zur perfekten Trennung mit Hilfe von Social Media.
ich liebe Euch.
Minusch
Und wieder so ein sympathischer Beitrag von Dir. Habe ein bißchen das Gefühl, Du schriebest auch über mich und damit meine ich nicht nur die gemeinsame Abneigung gegen Bitterstoffe. Kann man sich auf eine Trennung vorbereiten? Ja, kann man – und sollte man vielleicht sogar, wenn Kinder da sind. Ich glaube, an diesem Punkt bin ich inzwischen auch angekommen und hoffe sehr, dass mich dieses Mal der Mut nicht wieder verlässt. Ist aber noch ein Stück Weg, bin aber entschlossen wie selten zuvor. Einfach, weil ich meinen Wunsch auf etwas eigenes Glück nicht länger unterdrücken will – denn damit unterdrücke ich viel zu sehr mich selbst. Und ich drücke Dich!!!
Chicorée ist aber auch eklig. Ich probiere es immer wieder, aber nein.
Du machst das schon genau richtig, so wie du das machst. Es ist dein Weg, den müssen andere nicht verstehen oder mögen. Nur Du (und die Jungs sollten mitkommen).
Freue mich auf Montag!
ich freu mich auch! no Chicorée!!!