ich stand eben im Regen vor dem Darmstädter Hochzeitsturm. die Worte im Titel stehen über dessen Eingang. ich habe darauf gestarrt. diese Worte gelten als 4 Herrschertugenden. aber tatsächlich halte ich sie für eine stabile Grundlage menschlichen Miteinanders.
ich habe als Kind über den Begriff „Gnade“ nachgedacht. ich erinnere mich, dass ich den Begriff (wahrscheinlich in einem Piratenfilm) aufschnappte und dachte, dass es toll sei, ein solches Wort zu kennen. ein Wort, das Schutz bieten kann, vor einem Angriff. ein Wort, das dein Leben rettet. gut, so einfach ist das leider nicht. als ich es damals benutzen wollte, um einer Tracht Prügel zu entgehen, hat mein Gegenüber es zumindest nicht verstanden. oder er wollte keine Gnade gewähren? ich weiß es nicht. ich war zu klein.
das Adjektiv „gnädig“ klingt in meinen Ohren sehr viel unangenehmer. es hat was herabsehendes. etwas hierarchisches. Gnade wird zwar auch gewährt, aber die Piraten zumindest waren da auf Augenhöhe. sie hatten den Vorteil der besseren Waffen oder der Überzahl. Könige, die Gnade gewährten, hatten etwas der-Welt-enthobenes. so als ob sie tatsächlich mehr wüssten und irgendwie übermenschlich wären. mir kam das schon damals seltsam vor. Gnade als etwas Gegenüber und gnädig als etwas über mir? nee, das passte nicht ins Konzept und ist mir seit dem nie wieder begegnet. ein aussterbender Begriff? vielleicht zu recht? naja, geholfen hat er mir ohnehin nicht.
ich blieb vorhin im Regen an dem Wort „Milde“ hängen. hinter dem Wort formte sich irgendwie ein Ton. also gedanklich. es verknüpfte sich mit allen meinen Entscheidungen der letzten 10 Jahre. es verband sich mit meiner Sehnsucht nach Ruhe und Sicherheit und meiner Demut gegenüber dem Leben. Milde ist Yoga ist Lächeln ist Annehmen ist Loslassen ist Stille. Milde ist das Anerkennen der Umstände, die zweite/dritte/vierte Chance, ist Vergebung…Milde ist eine Haltung, eine Perspektive auf die Welt. Gnade ist ein Geschenk und als solches nicht vorhersehbar.
zwei Langzeittherapien, um zu verstehen, was meine Kindheit aus mit gemach hat (wofür ich verstehen musste, was die Kindheiten meiner Eltern aus meinen Eltern gemacht hatten), wirklich katastrophale Erfahrungen und nicht zu letzt mein Studium haben mir geholfen, mich zu finden. ich bin keine Heldin. ich bin stark, ja. gemessen an menschlichen Versagen bin ich echt stark. gemessen am Alltag bin ich Durchschnitt. gemessen an Perfektion bin ich ein Fail.
aber: ich bin. das reicht bekanntermaßen schon aus, um unantastbar zu sein. also körperlich. da ich nicht unfehlbar bin, bin ich in diesem Bereich persönlichen Handelns natürlich nicht unantastbar. aber körperlich bin ich es.
es gab bisher in meinem Leben 3 Menschen, die mich sowohl seelisch als auch körperlich angegriffen und verletzt haben. sie alle sind in der Lage, das zu erklären. wirklich. sie können es erklären. sie begründen diese Übergriffe mit mir. meinem Sein. damit bin ich groß geworden. immer dieses Wort „Liebe“ in Verbindung mit „Du musst besser sein, als Du bist“. Liebe als Herausforderung. ich hab sie immer wieder angenommen. ich bin echt super im Herausforderungen annehmen. und ich hab mich damit selbst immer wieder über die Klippe geschubst.
was ich schon mit 16 verstanden habe: wenn ich mal eine Mama sein will und meinen Kindern so etwas ersparen möchte, muss ich es aufräumen, verstehen und Alternativen finden. hab ich gemacht. zwei Langzeittherapien. ich war gründlich. und heute weiß ich, dass das, was meinen Eltern unausweichlich erschien dennoch immer genügend Spielraum für eine Entscheidung gelassen hätte. jedes einzelne Mal hätte es eine Alternative gegeben. und es hat immer den Raum gegeben, sich zu entschuldigen (wobei ich weiß, dass sowas in den 80ern auch nur bedingt üblich war in Familien…manche Eltern von Freund*innen konnten das, andere nicht…war eben eine Mischgeneration).
der berühmte Satz „Du wirst das verstehen, wenn Du erst mal selber Kinder hast“ ging in meinem Fall nach hinten los. ja, ich verstehe wie weit das Versagen ging. verstehe ich. aber ich verstehe nicht, wie Eltern ihr Kind so behandeln können. versteh ich nicht.
vorhin im Regen, habe ich eine Entschuldigung bekommen. er schämte sich. vor mir. vor den Kindern. er war traurig. verwirrt. erschüttert und entsetzt. sicher auch irgendwie wütend. aber vor allem traurig. still. die anderen 2, die mich schon angegriffen haben, hatten ihm ihre Unterstützung zugesagt. hatten sie schonmal getan. er könne ruhig bei ihnen anrufen, wenn was wäre oder mal bei ihnen übernachten, wenn das nötig wäre. und auch jetzt würden sie hinter ihm stehen, denn solche Vorkommnisse kämen nicht einfach von ungefähr. sie wissen über den Vorfall maximal das, was ich hier veröffentliche plus die Bestätigung durch zwei, denen mein Mann über den Weg lief. mich haben sie gar nicht erst gefragt.
mein Mann ist sicher nicht hellsichtig begabt, aber erkennt etwas vulgäres, wenn es sich ihm zeigt. er weiß, dass die Aufgabe unserer Eltern jetzt wäre, dafür zu sorgen, dass es den Enkelkindern gut geht und nicht ihm. dass es die Aufgabe unserer Eltern wäre, dafür zu sorgen, dass ich die Hände frei habe um meinen Job als Mama zu machen. dass dieses Angebot am deutlichsten zu Tage bringt, dass ich in den Augen meiner Verwandtschaft eine echt unsympathische Fratze habe, der es nicht schadet, wenn ab und zu einer reinschlägt. oder habe ich da was falsch verstanden?
er bekam tatsächlich auch finanzielle Hilfe für einen Anwalt angeboten (von seinen Eltern). bei mir hat nicht mal jemand nachgefragt, wie es mir geht. ob ich Hilfe brauche.
ich lebe jetzt seit 6 Tagen mit meinen Kindern alleine in der Wohnung. es sieht ordentlich aus. der Kühlschrank ist sinnvoll gefüllt. das Bad ist geputzt. die Kinder schlafen durch und erleben schöne Dinge. gestern haben wir Klingeln und Schlösser für ihre Laufräder gekauft und waren danach Kois füttern im Zooladen. den Kindern geht es so gut wie nur irgendwie möglich. ich nehme nach wie vor Schmerztabletten und habe verschiedene Termine um meinen Kram zu regeln. meine Zeit für mich ist das schreiben dieses Blogs. das ist mein Yoga. mein Rückzug und mein Schrei.
ich atme viel ein und aus. lasse immer wieder los, um für meine Kinder frei von Belastungen zu sein und mit ihnen lachen zu können. wer uns sieht, sieht eine Mama mit zwei kleinen Jungs. alles gut. ich übe mich in Milde mit mir selbst. ich nicke Sachen ab. und ich versuche, in die Zukunft zu fühlen um meinen Kompass wieder einzunorden.
ich mache das mehr oder weniger alleine.
ich tausche mich über Twitter aus und nehme die vielen Gesten dort war. aber ich handle alleine. ich lebe alleine mit den beiden Kindern. ich habe mich selber abgesichert. in den Augen der Profis mache ich alles richtig. eine Anwältin kann ich über Prozesskostenbeihilfe finanzieren. mein Mann hat die Rückendeckung seiner und meiner Eltern.
Danke, ihr vier. ihr macht es mir sehr sehr leicht, nicht mehr traurig darüber zu sein, dass meine Kinder keine Großeltern haben. ihr hattet alle mehr als eine Chance, mit uns klar zu kommen. aber mal ehrlich: wenn ihr nicht in der Lage seit, mit mir Gespräche auf Augenhöhe zu führen, dann muss ich nicht in der Lage sein, Rücksicht auf Euch und Eure Gefühle zu nehmen, oder?
Stärke (ich schütze meine Kinder)
Weisheit (ich unterscheide zwischen den Bedürfnissen meiner Kinder und meinen eigenen)
Gerechtigkeit (ich akzeptiere nicht, dass jemand mir oder meinen Kindern Schaden zufügt und ich fordere meine Recht ein, auch wenn ich dann als Nestbeschmutzern da stehe)
Milde (ich kann dem Menschen verzeihen, der sich schämt, mich verletzt zu haben)
ja, das ist ekelhaft arrogant. ich weiß. aber mal ehrlich: lieber arrogant und unversehrt als offen und zerstört. nein, als Herrscherin sehe ich mich nicht. aber als echt verdammt gute Mutter und gnadenlos gute Frau.
Minusch
Weiterhin viel Kraft!!!!👍👍👍
Mann…da fehlen einem echt die Worte! Fühl dich unbekannterweise umarmt. Ich schick dir Kraft und zieh den Hut vor deiner Stärke und Konsequenz! Deine Kinder können unglaublich stolz auf dich sein! ❤️