virtual reality

Ich beobachte gern. Ich bin zwar auch sehr sehr gern Akteurin, wie sich durch meine Theater-Vita abbilden ließe, aber ich beobachte gern. Völlig konsequent ist, dass ich mich im Internet sehr wohl fühle, seit ich es nutzen kann. Hier gibt es so viele Möglichkeiten, zu beobachten…am Anfang beobachtete ich primär Diskussionen in Foren. Dann beobachtete ich in Chats. Heute beobachte ich auf Twitter und folge Blogs.

Ich suchte mir zu Anfang mal ein Forum aus, das mir vom Gefühl und der Netiquette her passte und machte dort mit. Erst zaghaft, was als sehr sympathisch empfunden wurde, dann mutiger, was als sexy bewertet wurde, und dann auch mal laut, was mir Arroganz attestierte.

Dasselbe geschah im Chat.

Auf myspace geschah das nicht…vielleicht, weil dort der Social Media Aspekt einfach nicht genügend Konfrontation ermöglicht.

Auf Facebook wurde ich allerdings auch angegriffen, als ich (vor allem) emotionaler wurde.

Auf Twitter fühle ich mich dem bereits entwachsen…

…ich bin, wie ich finde, ein Kind dieser Zeit. Aufgewachsen mit PCs, sozialisiert im RL aber inzwischen mit der virtuellen Realität eng verbunden. Ich denke im Suchmaschinen-Modus, nutze verschiedene Apps täglich und genieße diese Möglichkeiten sehr. Ohne MacBook und Iphone fühle ich mich zwar nicht überfordert aber verärgert, weil mir Lebensqualität verloren geht.

Ich bin also schon sehr lange auf verschiedenen Ebenen im Internet mit Menschen im Kontakt und beobachte gerade eine Art Höflichkeits-Kollaps. Ja, der Shitstorm an sich ist nicht neu. Aber seine Selbstverständlichkeit.

Auch früher wurde gepöbelt und angegriffen, gedisst, beleidigt und in Gruppen verletzt. Früher gab es aber eine Grenze, die nicht überschritten wurde. Vielleicht lag es an den Kontrollmöglichkeiten. Vielleicht auch einem starken Peer-Group-Effekt, schließlich waren vor 10 Jahren nicht halb so viele Menschen online präsent wie heute. Damals waren die Account-Nutzer wirklich noch etwas nerdig unterwegs, wenn auch nicht halb so solidarisch-verbunden wie vor 20 Jahren.

Die große Freiheit, die das Internet so wunderbar macht stellt uns, wie in allen anderen Lebensbereichen auch, auf die Probe. Was machen wir mit der Möglichkeit, anonym sein zu können? Ohne die soziale Kontrolle unserer Freunde in RL? Ohne Angst vor der Meinung der KollegInnen? Und was geschieht mit mir, wenn ich mich in meinem Ärger in einer ganzen Gruppe von Menschen wieder finde?

Wenn ich im Internet Artikel lese, machen die etwas mit mir. Manchmal gibt es mehr oder weniger sachliche Informationen. Oft berühren sie mich sehr. Und immer wieder regen mich Artikel echt auf. Dann wünsche ich mir ein Ventil, jemanden, dem ich aus meiner überlegenen Anwenderinnen-Sicht heraus mal klarmachen kann, was mit ihm/ihr nicht stimmt und warum ich es besser weiß. Mir schießen bissige Formulierungen durch den Kopf.

Und dann die Frage: Wozu? Was würde es ändern? Würde er/sie diesen Satz lesen und verstehen? Oder bekäme ich eine deutliche reply? Vielleicht sogar inklusive Gegenangriff? Vielleicht gäbe es ein zwei Leute, die meiner Meinung wären, aber wofür? Und woher weiß ich eigentlich, dass ich wirklich Recht habe?

In unseren verschiedenen virtuellen Kanälen messen sich Menschen unterschiedlichsten Hintergrundes miteinander. Es gibt ein Bedürfnis nach Austausch und Diskussion. Es gibt ein Bedürfnis nach Ventilen. Es gibt das Bedürfnis, ernst genommen zu werden. Und es gibt ein Bedürfnis, keinen Hochschulabschluss haben zu müssen, um an einer Debatte beteiligt zu sein. Gleichzeitig gibt es die Haltung der Menschen, die in ein bestimmtes Themenfeld schon sehr viel Zeit investiert haben und müde sind, immer wieder vom gefundenen Feuer zu erzählen. Und es gibt Menschen, die aufrütteln möchten mit ihren Gedanken und Visionen.

Derartig viele Bedürfnisse kanalisiert in Social Media können nur zu Konflikten führen, weil sie dies auch in RL tun! Nur haben wir in RL eben nicht mal eben die Möglichkeit, an einer bekannten Journalistin, einem Autor oder an Politikern direkt und unzensiert Dampf abzulassen. Sehr viele gesellschaftliche Regeln verhindern eine Befriedigung dieser Bedürfnisse (wenn es auch sicher Leute gibt, die diese Regeln ignorieren).

Pädagogisch würde ich sagen: Das Internet ist in der Pubertät angekommen. Es hat seine eigene Arroganz und übergeht sehr schnell und sehr einfach Unterschiede. Es berücksichtigt keine Herkunft. Im Internet ist egal, wie Du aussiehst und wie Du Deine Moral definierst. Es bildet ab.

Vielleicht hilft es, das Ganze so zu sehen. Als einen großen Abgrenzungsversuch. Abgrenzung von alten Häsinnen und Hasen und Eroberung dieses Terrains auch für Menschen, die noch nie in die Verlegenheit kamen, irgendwas zu programmieren. Vielleicht müssen jetzt alle AnwenderInnen für sich durch diese Zeit verbaler Angriffe und multimedialer Belästigung durch, um den Weg dort raus zu finden. Vielleicht ist das der Booster für die Medienkompetenz 2.0, die wir brauchen.

Das Internet ist kein Fluchtort mehr aus der Realität. Das war es sehr lange. Die analoge Realität hat die virtuelle Realität eingeholt. Was in der Welt, im Land, im Kreis, in der Stadt, im Kiez und zuhause passiert, bildet sich hier genauso ab. Aber durch seine Direktheit können wir im Internet vieles tun, was uns in unserem RL nicht möglich ist. Und zwar bisher ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.

Nein, ich möchte nicht behaupten, dass ich nicht an shitstorms verzweifle. Ich bin immer wieder dankbar, dass meine Followerzahlen bisher in einer Größenordnung bleiben, die meine Angreifbarkeit klein hält. Aber ich bin innerlich schon darauf vorbereitet, eventuell einmal dazu zu gehören, zu den Ventilen, die eine diffuse Gruppe Menschen braucht, um ein Thema zu verarbeiten (oder bearbeiten).

Meine Hoffnung ist, dass irgendwann der Gewinn der Erkenntnis, dass flamen nichts bringt, größer wird, als der Gewinn des flamens selbst. Ich hoffe, dass sich das Internet selber hilft und Ventil-Möglichkeiten entwickelt um die Wut zu reflektieren und letzten Endes zu kanalisieren. Sicher regelt sich sowas nicht durch Hilferufe nach mehr Moderation oder Kontrolle. Aber der Gedanke, nicht selbst zum Gegenstand eines shitstorms werden zu wollen und dafür bereit zu sein, die eigene Freiheit hin und wieder selbst zu zensieren, kommt sicher nicht nur mir in den Sinn.

Eine Geduldsprobe. Für die AnwenderInnen, die schon die Schattenseite erleben mussten sicher eine Belastung, die ihre virtuelle Existenz in Frage stellt. Für BeobachterInnen solcher Angriffe die Aufforderung, die eigene virtuelle Existenz zu prüfen.

Ich denke hier nur nach…und ich wünsche mir einen Forschungszweig, der diese Phänomene abbildet und analysiert. Und dann wünsche ich mir kreative Köpfe, die damit weiterarbeiten…wie im richtigen Leben. Nur besser.

Liefs,

Minusch.

2 Antworten auf „virtual reality

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